© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Die Sortiererei hat überhaupt nichts geändert
Der deutsche Recycling-Weltmeister führt zugleich in der Weltliga der Müllproduzenten
Rainer Oertel

Helmut Köppke dürfte Frank-Walter Steinmeier auch als Bundespräsident eher mit gemischten Gefühlen betrachten. In dessen brandenburgischem Wahlkreis 60 (Havelland bis Teltow-Fläming), wo Köppke zu Hause ist, hat der deutsche Chefdiplomat nämlich ein Herzensanliegen des Ökoaktivisten von der SPD-Basis schlicht ignoriert. Denn auf der jährlichen Sommertour durch seinen Wahlkreis ist Steinmeier an Köppkes Heimatdorf Neuendorf stets vorbeigefahren. „Frank“, wie ihn Köppke unverdrossen nennt, antwortete überdies nie auf seine Karte, die ihn auf einen lokalen Umweltskandal aufmerksam machte, der einen Politiker auch dann nicht gleichgültig lassen sollte, wenn er gern die größere Bühne für Auftritte im Kampf gegen den Klimawandel bespielt.

In Neuendorf befindet sich eine illegale Mülldeponie. Im November 2011 kam es dort durch Selbstentzündung zu einem Brand. Die im Amtsdeutsch so getaufte „temporäre Rauchentwicklung“ nebelte die nahe Autobahn 9 zwischen Berlin und Leipzig ein und verursachte eine Massenkarambolage. Zwei Menschen starben, neun wurden schwer verletzt. Der Vorfall blieb ohne Konsequenzen, die illegale Deponie gammelt weiter vor sich hin. Keine Demarche in Potsdam habe etwas bewegt, „alle Sozis“ zeigten Köppke die kalte Schulter, „selbst die Genossen in Brüssel“, die er einschaltete.

Für den Umweltjournalisten Michael Billig, der die Leidensgeschichte des so engagierten wie frustrierten SPD-Mannes recherchierte (Natur, 11/16), steht dieses Detail aus Regionen, wo „die Menschen draußen im Lande“ wohnen, in zweierlei Hinsicht für die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der deutschen Abfallpolitik . Einerseits weist der Fall Neuendorf auf landespolitische Defizite hin, die nicht überall derart ans Versagen grenzen wie in Brandenburg, das mit seinen hundert illegalen Abfalldepots als Eldorado der Müllmafia gilt.

Vom Rathenower 60-Tonnen-Lager bis zu einer 400.000 Tonnen wilden Müll bergenden Deponie in Bernau läßt das Schreckenssortiment auf einstigen LPG-Brachen, Militärlagern und Tagebaulöchern keine Schweinerei aus. Da deren Entsorgung stolze 320 Millionen Euro kosten würde, die das rot-rote Bundesland nicht flüssig hat, bleibt nicht nur den Neuendorfern ihr stinkender „Schandfleck“ noch lange erhalten.

Als exemplarisch will Billig das Brandenburger Extrem trotzdem verstanden wissen. Illustrieren doch die Mißstände zwischen Elbe und Oder drastisch, wie wenig der Recycling-Musterknabe Deutschland diesen Titel verdient. Freilich tobe sich auf dem Feld der Abfallwirtschaft der deutsche Ordnungsfuror in seinem letzten Reservat aus. Schon an Grundschüler gebe das Bundesumweltministerium Broschüren zur peniblen Mülltrennung aus. Die Republik ist mit Tonnen für Weiß- und Buntglas, Biomüll, Papier und Restabfälle zugestellt.

Mülltrennung ist zum Volkssport avanciert

Mülltrennung ist Volkssport, hier sind die Deutschen – sammelnd, trennend, wiederverwertend – Weltmeister. Doch gleichzeitig, so rechnet Billig nüchtern nach, gehöre ihre Konsumgesellschaft auch zu den größten Müllproduzenten der Welt. „Daran hat auch die ganze Sortiererei nichts geändert.“ In der EU drücken nur Dänen und Zyprer mehr Abfall in die Tonne als die Deutschen mit ihren jährlich 212,5 Kilogramm Verpackungen pro Kopf. Rumänen oder Polen begnügen sich mit der Hälfte. 

Die Crux des Dualen Systems der Mülltrennung, das jährlich zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen in Höhe von drei Millionen Tonnen beitrage, liegt für Billig darin, daß der Hase Recycling – allen stolzen Bilanzen zum Trotz – gegen den Igel Müllproduktion nicht gewinnen kann. Immer noch ist Müllvermeidung eher ein theoretisches Prinzip. So würden die Konsumenten ungeachtet des Dosenpfand-Theaters – das 1998 von Umweltministerin Angela Merkel novelliert und 2003 vom Grünen-Nachfolger Jürgen Trittin exekutiert wurde – heute immer seltener zu Mehrwegflaschen greifen. Bei Mineralwasser liege Glas hinter Plastik hoffnungslos zurück: Von zehn Milliarden Litern pro Jahr werde nur ein Drittel in Glasflaschen verkauft.

Vor allem aber der Elektromüll droht die Kreislaufwirtschaft in ein Hamsterrad zu verwandeln. 1,8 Millionen Tonnen E-Schrott türmen sich alljährlich in Deutschland auf. Eine Studie des Öko-Instituts und der Uni Bremen schreibt dies neuen Nutzergewohnheiten zu: Früher hielt der Röhrenfernseher zehn Jahre, der Flachbildschirm fliegt nach fünf Jahren weg. Ähnlich ergehe es Kühlschränken. Laptops und Smartphones halten oft nur drei Jahre. So speist der E-Schrott den am stärksten wachsenden Abfallstrom Europas. Die EU-Kommission erwartet bis 2020 eine Steigerung von derzeit 9,5 auf zwölf Millionen Tonnen. Ein Zehntel davon erreicht, illegal verschifft, die maximal verseuchten Megadepots in Westafrika (JF 27/16).

Mit der Expertise der Deutschen Umwelthilfe in der Hand, sieht Billig aber nicht allein den Konsumenten in der Pflicht. Zwar deutet er nur schüchtern an, daß langlebigere Geräte die Abfallhalden langsamer wachsen ließen. Aber um so eifriger wirbt er für die neue gesetzliche Regelung, der zufolge der Handel Altgeräte zurücknehmen müsse. Ausgerechnet PC- und Smartphone-Discounter mit einer Ladenfläche bis 400 Quadratmeter nimmt das neue Elektrogesetz jedoch davon aus. Zudem zögert der Bundesgesetzgeber, eine traditionelle, verblüffend simple Form der Müllvermeidung zu unterstützen: die Reparatur. Ermäßigte Mehrwertsteuern etwa, sieben statt 19 Prozent, wie der BUND vorschlägt, könnten Reparaturen billiger und attraktiver machen. Ein Anreiz, qualitativ hochwertiger zu produzieren, ginge überdies von der Verlängerung der Garantiefrist von zwei auf fünf Jahre aus. 

Informationen zur Abfallwirtschaft: bmub.bund.de/

Zahlen zum Abfallaufkommen: www.umweltbundesamt.de