© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Der „Schimmelreiter“ und die Grenzen der Technik
Irdische Unbeständigkeiten
(ob)

Zu den untrüglichen Kennzeichen bedeutender Literatur gehört, daß deren Interpretationen kein Ende finden. Deshalb darf auch Theodor Storms kurz vor seinem Tod vollendete Novelle „Der Schimmelreiter“ (1887) als in den Bildungskanon aufgenommen gelten. In Zeiten des Klimawandels scheint die Geschichte des gegen Sturmfluten kämpfenden Hauke Haien sich sogar der besonderen Aufmerksamkeit der Storm-Forschung zu erfreuen. So legt der an der University of North Texas lehrende Germanist Christoph D. Weber jetzt ein neues Deutungs-angebot vor, das sich scharf von älteren Arbeiten abhebt, die Storms Abhängigkeit von der „spukhaften“, heidnischen Überlieferung des Menschenopfers exponieren. Denn der nordfriesische Deichgraf stürze sich nicht, was auch christlicher Tradition widerspräche, als menschliches „Bauopfer“ in den Deichdurchbruch. Fern solcher Eindeutigkeit gewähre Storm dem Leser vielmehr einen reflexiven Spielraum, um die heterogenen Ansätze in der kulturellen Bewältigung dynamischer Naturkräfte zu überdenken (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1/2016). Dabei lasse der Autor erkennen, daß Naturkatastrophen zwar den menschlichen Fortschrittswillen anstacheln würden, der aber die Unbeständigkeit des irdischen Daseins nicht vollends mit technischen Errungenschaften beheben könne. 


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