© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/16 / 02. Dezember 2016

Lieblingskanzler der Deutschen
Thomas Karlaufs beeindruckende Biographie über Helmut Schmidts späte Jahre als „Elder Statesman“ und Publizist
Klaus Hornung

Thomas Karlauf widmet dem vor einem Jahr verstorbenen Helmut Schmidt eine profunde Biographie, vor allem dem zweiten Teil seines Lebens als „Elder Statesman“, Schriftsteller, Publizist, strategischer Denker, auch als politischer Moralist. Natürlich muß der Autor dazu auf die ersten dreißig Jahre des Abgeordneten, Fraktionsvorsitzenden, Finanz-, Wirtschafts- und Verteidigungsministers und schließlichen Bundeskanzlers (1974 bis 1982) zurückgreifen. 

Zwei Leistungen  des Kanzlers aus dieser Zeit hebt der Biograph besonders hervor: die Bewältigung der Krise der Bundesrepublik im RAF-Terror des Herbstes 1977, als er in schwerer Güterabwägung zwischen der Räson des Staates und dem Opfer Hanns Martin Schleyers dem politisch labilen deutschen Teilstaat deutlich machte, was politische Verantwortung im Notstand bedeuten kann. 1982 hat er dann der Öffentlichkeit einer Wohlstandsgesellschaft erneut demonstriert, was Staatsräson erfordern kann. Seine Entscheidung für den Nato-Doppelbeschluß verhinderte, daß die Entspannungspolitik Willy Brandts und der SPD in der strategischen Kapitulation gegenüber der Sowjetunion geendet hätte, obwohl er dadurch seine Kanzlerschaft aufs Spiel setzte. Karlauf hebt mit Recht hervor, daß durch die Bewältigung der RAF-Krise Schmidts Ansehen über Parteigrenzen hinweg wuchs und 1982 sein strategisches Denken ihm auch zunehmende internationale Würdigung verschaffte.

Streiter gegen kollektiven Selbsthaß und Hysterie

Als Schmidt als Hamburger Innensenator 1961 mit dem Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ die Bühne der Strategiedebatte betrat, erlebte es rasch zahllose Auflagen und Ausgaben in fremden Sprachen, die den Autor bald als anerkannten strategischen Denker auswiesen, als einen jener, die wie etwa Henry Kissinger darangingen, die selbstzerstörerische Kernwaffenstrategie der massiven Vergeltung („Massive Retaliation“) umzuformen in eine Strategie der „Flexible Response“, zu einem Instrument vernunftgeleiteter Politik. 

Diese Einsicht hat er als Bundeskanzler dann auch politisch umgesetzt, als er 1977 bei einem Vortrag im Londoner International Institute of Strategic Studies (IISS) seine Ideen erstmals einem internationalen Publikum vortrug. Sie wurden brennend aktuell, als die Sowjetunion nuklear bestückte Mittelstreckenraketen gegen Westeuropa aufstellte, die das bisherige strategische Gleichgewicht zu Lasten des Westens unterlaufen sollten. Schmidt machte deutlich, daß es wiederhergestellt werden müsse, entweder durch den Abzug der Sowjet-Raketen oder durch den Aufbau gleicher Raketen mittlerer Reichweite seitens der Nato. 

Er wurde damit zu einem der Väter der westlichen „Nachrüstung“ und des Nato-Doppelbeschlusses, einer strategischen Entscheidung politischer Vernunft, die freilich in den folgenden Jahren von großen Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit nicht verstanden wurde. Hier entfaltete sich seit 1980 eine sogenannte Friedensbewegung, die die „Nachrüstung“ als gefährlichen „Türöffner zu einem baldigen Atomkrieg“ denunzierte und sich bald auch in der SPD ausbreitete, so daß der Kanzler in seiner Fraktion mit wenigen politischen Freunden in die Minderheit geriet. Nachdem die FDP sich aus wirtschaftspolitischen Gründen zum Koalitionswechsel zur Union entschieden hatte, wurde der Konflikt um die „Nachrüstung“ zum letzten Auslöser des Kanzlersturzes. 

Der Biograph stellt diesen Konflikt des Kanzlers mit seiner Fraktion ebenso abgewogen dar wie Helmut Schmidts Haltung zur deutschen Geschichte und besonders zur NS-Geschichte. Seine Urteile zur Zeitgeschichte erscheinen realitätsnäher, weniger elitär als etwa die des Bundespräsidenten von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985. Schmidt fühlte sich besonders von Weizsäckers Satz in der Berliner Rede persönlich verunglimpft, die Deutschen hätten von den Vernichtungslagern wissen können, wenn sie gewollt hätten. 

Das war aus Schmidts Sicht ein Urteil, das für die Oberschicht gelten mochte, aber nicht für die breiten Schichten im Krieg, denen er sich selbst zurechnete. Helmut und Loki Schmidt haben später in einer eigenen Schrift über ihre „Kindheit und Jugend unter Hitler“ (1992) realitätsnah berichtet über ihre Zweifel am NS-Regime und seiner Ideologie, über den alltäglichen Gegensatz zwischen den geforderten Pflichten und der Angst vor Verhaftung, wenn man seine wahre Meinung offen kundgab. 

Schmidt sprach von der Mitverantwortung des einzelnen auch für die Diktatur, gehörte aber nicht zu denen, die daraus ableiteten, die deutsche Geschichte sei eine einzige Kette von Versagen und Verbrechen gewesen. Für ihn war es unzweifelhaft, daß Geschichte insgesamt aus dem Erbe und der Kultur Europas nicht wegzudenken sei. Als die „Bewältigung der deutschen Vergangenheit“ in den neunziger Jahren hypertrophe Züge anzunehmen begann, etwa mit der sogenannten „Wehrmachtausstellung“ Jan Philipp Reemtsmas und Hannes Heers und später mit dem Buch Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996), machte Schmidt aus seiner Kritik keinen Hehl und sprach von Zügen der Hysterie, von Flagellantentum und kollektivem Selbsthaß, auch in der Zeit, als sich Teile der Redaktion etwa mit Goldhagen allzu unkritisch identifizierten. Das Fazit von Schmidts Urteil über die deutsche Geschichte und die Deutschen blieb freilich skeptisch, wenn er wiederholt vor der leichten ideologischen Verführbarkeit der Deutschen warnte, vor ihrer Anfälligkeit für Indoktrination und er in ihnen ein „eher gefährdetes Volk“ sah. Seine „Heiligen“ im Kalender der Philosophie waren und blieben nun einmal Immanuel Kant und Karl Popper.

Als Helmuth Schmidt im Oktober 1982 das Kanzleramt verließ, hatte er das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht. Er war keine zur Resignation neigende Natur. Die neue Freiheit von Amt und Pflicht nützte er als erstes zu einer großen Reise um die Welt, voll bepackt mit Vorträgen und Gesprächen. Er konnte nun seine Weltneugier ausleben, auch seiner pädagogischen Neigung frönen. Ertrag dieser Reisen waren nicht zuletzt zahlreiche Bücher, so etwa der lesenswerte Doppelband „Menschen und Mächte – Die Deutschen und ihre Nachbarn“ (1987/1990). Im März 1983 berief der Verleger der Wochenzeitung Die Zeit, Gerd Bucerius, Helmut Schmidt neben Marion Gräfin Dönhoff zum Herausgeber. Es war das Imprimatur zu seinem zweiten Beruf, dem politischen Publizisten, den er mit Leidenschaft und Kompetenz ergriff. Hier hatte er Gelegenheit, sein Talent als politischer Kommentator zu entfalten, die Öffentlichkeit des In-­ und Auslandes über die Kräfte und Tendenzen der Weltpolitik zu informieren, zu belehren. 

Die Zeit verstand er als liberales Blatt, oft nicht in Übereinstimmung (schon aus Gründen des Generationsunterschieds) mit Teilen der Redaktion, nicht selten auch hier mit belehrendem Gestus. Die Jüngeren dort sahen die Zukunft freilich bereits in der deutschen Teilung in zwei Staaten und bogen sich ihr DDR-Bild nach ihren Wünschen zurecht, um dann bald von der Geschichte widerlegt zu werden.

Der Patriot als Stifter des Deutschen Nationalpreises

Schmidts Verhältnis zu seinem Nachfolger blieb distanziert, zumal als Kohl die historische Chance zufiel, seine Politik auf die Wiedergewinnung der deutschen Einheit auszurichten. 1993 konstatierte Schmidt aus der Sicht der Opposition drei große Krisen im Land, eine Krise im Vereinigungsprozeß, die damit verbundene wirtschaftliche Rezession und eine Asylkrise. In der letzteren bezog der Ex-Kanzler eine sehr dezidierte kritische Position, zumal gegen islamische Überfremdung durch die türkische Masseneinwanderung. Dagegen wehrte sich der Patriotismus des „Elder Statesman“. 

Der kam auch in seiner Initiative zur Gründung einer Deutschen Nationalstiftung zum Ausdruck, die eine deutsche Identität stärken sollte, die er als ein aufgeklärtes und europäisch akzentuiertes Nationalbewußtsein umriß. Die Stiftung mit Sitz in Weimar sollte in Zukunft jährlich einen deutschen Nationalpreis in der Dresdener Frauenkirche verleihen. Die Stiftung rekrutierte sich bald etwas einseitig aus Adressen des großen Geldes und des Bildungsbürgertums mit dem Ergebnis, daß sie auf die Dauer keine Erfolgsgeschichte wurde.Helmut Schmidts Gattin Loki starb im Oktober 2010 und nach ihr eine Reihe der einstigen Freunde in der Bundesregierung wie Hans Apel und Hans Matthöfer. Schmidt begann, sein Haus zu bestellen, etwa 2006 durch Reisen zu den amerikanischen Freunden und ehemaligen Außenministern George Shultz und Henry Kissinger. 

Seit Präsident George W. Bushs rücksichtsloser Hegemonialpolitik wuchs Schmidts Sorge um die aus den Fugen geratende Weltpolitik. Im gleichen Jahr besuchte er auch nochmals China, das er als uralte Kulturnation des Konfuzianismus bewunderte und als neue Weltmacht akzeptierte, die ihn in der Großen Halle des Volkes feierte. Im Dezember 2013 machte er seinen Abschiedsbesuch in Rußland, wo ihn Präsident Putin zu einem dreistündigen Gespräch und Abendessen in seiner Privatresidenz empfing, ihn, der sich noch in den Tagen Breschnews mit hohen Sowjet-Militärs über Kernwaffenstrategie freimütig zu streiten nicht gescheut hatte. Er war jetzt nach der europäischen Wende von 1989/90 gegen die Ausdehnung der Nato bis Polen und sah in der Krim entgegen der westlichen Propaganda alten Boden Rußlands. Wenige Monate nach Schmidts letztem Besuch in Moskau begann der neue Ost-West-Konflikt um die Ukraine.

Am 10. November 2015 starb Helmut Schmidt in Hamburg im 97. Lebensjahr. Am 23. November fand im ehrwürdigen Michel die Trauerfeier mit weit mehr als tausend Menschen statt. Henry Kissinger faßte den Nachruf auf seinen Freund in den Worten zusammen: „Perfektionistisch, launisch, stets auf der Suche, inspirierend, immer zuverlässig.“

Thomas Karlauf: Helmut Schmidt. Die späten Jahre. Siedler Verlag, München 2016, gebunden, 560 Seiten, Abbildungen, 26,99 Euro