© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

„Jetzt seien Sie mal nicht naiv!“
Merkel, Gabriel, AfD – und dann auch noch die nervigen Fragen der JUNGEN FREIHEIT. Der langjährige Vize-Chefredakteur des Focus, Stephan Paetow, der jetzt für Tichys Einblick schreibt, ist nicht zu beneiden
Moritz Schwarz

Herr Paetow, bei „Tichys Einblick“ raufen Sie sich gerne die Haare, warum?

Stephan Paetow: Na schauen Sie sich doch unser politisches Personal an!

So schlimm?

Paetow: Schlimmer. 

Sind Sie der Typ, der sich gerne aufregt?  

Paetow: Im Gegenteil, ich muß eher darauf achten, mich abzuregen – schließlich brauche ich für meinen Wochenrückblick bei Tichy einen ordentlichen Schuß Humor. Denn vieles was man in so einer Kolumne verarbeiten könnte, ist alles andere als witzig. Nehmen Sie die zahlreichen sogenannten „Einzelfälle“ der letzten Zeit. Die Kunst ist eigentlich, die Dinge herauszusuchen, die man noch ironisieren kann. 

In Ihrem letzten Rückblick stöhnen Sie über das „Pontifikat“ Angela Merkels. 

Paetow: Ich stöhne überhaupt nicht. Ich war früher Katholik, und mein Herz schlägt für diesen Pomp! Aber ist es nicht so, daß dieser neue Merkelianismus nur noch religiös zu erklären ist? 

Was meinen Sie? 

Paetow: Fällt Ihnen das nicht auf? Der treue Thomas (de Maizière), der folgsame Volker (Kauder), die gucken doch schon so voller Eifer! Die Hingabe an die Kanzlerin – das ist nicht mehr politisch, das ist religiös. 

Übertreiben Sie nicht? 

Paetow: Meinen Sie? Na, nehmen Sie doch mal Gauck, Pfarrer, und was tut er? Er predigt tatsächlich die ganze Zeit! Während Pfarrerstochter Merkel in Rätseln spricht, die man, wenn überhaupt, nur als Schriftgelehrter oder Satiriker versteht. Und der Rest hängt dennoch an ihren Lippen. 

Ist das nicht einfach eine Frage der Macht? 

Paetow: Erinnern Sie sich an Helmut Kohl? Der hatte auch „die Macht“. Dennoch gab es jede Menge Opponenten, Konkurrenten, Dissidenten, die an seinem Stuhl sägten. Das gibt es bei Merkel nicht. Nein, das kann man nicht vergleichen. Das ist doch wirklich, als wären Glaube und Eifer in die Politik zurückgekehrt! 

Ist das die Erklärung dafür, daß Merkel – wie Erdogan in der Türkei – immer wieder gewählt wird, egal was sie macht?

Paetow: Meine Theorie war ja noch vor einem Jahr, daß Angela viel schlauer ist, als wir alle zusammen. Ich weiß, das paßt Ihnen nicht – aber hören Sie zu! Nach meiner Ansicht hat Merkel erkannt, daß ihre Macht auf der Akklamation durch die Presse beruht. Ganz anders als etwa bei Kohl, der 16 Jahre gegen eine Anti-Berichterstattung anregieren mußte – Ausnahme Springer. Merkel macht also hauptsächlich Symbolpolitik für die Medien, bis die sie zur heiligen Angela ausrufen. Hintenrum macht sie Realpolitik und korrigiert so gut es geht die Folgen dessen, was sie vornerum angerichtet hat. Das macht sie bei der Energiewende so, bei der Eurorettungspolitik und vor allem bei der sogenannten Flüchtlingspolitik. Eine Theorie, die wir im nächsten Jahr verifizieren oder falsifizieren können.

„Demokratie ist ein Verfahren, welches garantiert, daß wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“

Paetow: George Bernard Shaw. 

Das wissen Sie?

Paetow: Ich bin mit Michael Klonovsky befreundet. 

Könnte das die Antwort auf das „Rätsel Merkel“ sein?

Paetow: Was hätte ich einem George Bernard Shaw noch hinzuzufügen! Außerdem bekomme ich für meine „Sie ist schlauer als wir“-Theorie regelmäßig so viel Leserschelte wie sonst nie. Also bin ich froh, wenn einer wie Shaw hier das letzte Wort hat. Dabei ist die Frau tatsächlich schlau. Ich traf sie einst bei einem Focus-Fest in Berlin persönlich. Zufällig setzte sie sich mit ihrer Entourage an meinen Tisch und ich begann höflich zu plaudern. Damals war sie noch recht neu im Amt, ich fragte: „Na Frau Merkel, was haben Sie denn als erste Kanzlerin so von den Männern in der Politik gelernt?“ Sie bedachte sich kurz: „Daß ihr euch immer anfaßt, um eure Macht zu zeigen.“ Ich dachte nach – und es stimmte! Politiker berühren andere Politiker tatsächlich gerne, etwa an Arm oder Schulter, um sie hier- oder dorthin zu leiten und unterschwellig anzuzeigen, wer wen anführt. Die hat wie eine Naturwissenschaftlerin den Zirkus beobachtet und gelernt.

Sind Sie also auch dem Merkelianismus erlegen? 

Paetow: Nein, ich unterschätze sie nur nicht. Die Frau weiß, wie sie sich verkaufen muß. Wie würden Sie denn Merkel verkaufen? Ich weiß schon! Ihr von der JUNGEN FREIHEIT würdet das natürlich ganz sachlich machen, schon klar. Ihr haltet eine Karikatur pro Woche in eurem an sich ja lesenswerten, aber bleischweren Blatt ja auch für Humor. Ich sage Ihnen, vergessen Sie es! Niemand interessiert sich für Fakten oder sachliche Aussagen in einem Wahlkampf! Merkel sagt heute das Gegenteil von dem, was sie gestern gesagt hat. Na und? Wurscht! Es geht um Bilder! Und das Bild von Merkel ist das von „Mutti“. Und das wirkt! Warum? Jeder Mensch hat eine Mutti. Und selbst wenn die eigene Mutti Fehler hat, bleibt sie doch Mutti!

Wer ist die realistische Alternative zu ihr? 

Paetow: Alternative?

2017 ist Bundestagswahl.

Paetow: Sie wollen jetzt aber nicht auf die SPD anspielen? 

Zum Beispiel. Warum nicht?

Paetow: Sie sprechen tatsächlich vom Projekt 18?

Na ja, laut Umfragen liegt die SPD zwischen 21 und 23 Prozent. 

Paetow: Noch ist Sigmar Gabriel ja auch nicht offiziell Kanzlerkandidat. 

So schlimm?

Paetow: Ich bitte Sie, der Mann ist doch unverkäuflich. 

Gabriel ist mit seiner Rumpeligkeit im Gegensatz zu Merkel immerhin emotional. 

Paetow: Rumpelig? Emotional? Was kommt als nächstes? Etwa „Mann aus dem Volk“? Warum, etwa weil er in seinem Lebenslauf angibt, für die Hilfsschule empfohlen worden zu sein? Lieber Herr Schwarz, seien Sie doch nicht naiv! Ich darf Sie daran erinnern, daß Gabriel der Erfinder des schönen Wortes „Pack“ für den Teil des Volkes ist, der ihm nicht paßt. Daß auch er eine Dienstwagenaffäre hatte. Daß er als Bundesumweltminister von den Medien begleitet demonstrativ die Bahn nahm – wegen des CO2-Ausstoßes –, aber nicht erwähnte, daß sein Chauffeur die Dienstlimousine parallel zum Bahnhof fuhr, um dem Herrn wenigstens den Rückweg bequem zu machen. Daß er sich, ebenfalls als Umweltminister, von der Flugbereitschaft in Mallorca abholen ließ, um an einer Kabinettssitzung in Berlin teilzunehmen, sich am Abend aber aus Hannover an den Urlaubsort zurückbringen und sein Flugzeug leer wieder nach Hause fliegen ließ. Bilanz: 55.000 Euro Steuergeld und 45 Tonnen CO2. Daß er eine Briefkastenfirma in Halle unterhielt, über die er für VW Geschäftsreisen unternahm ... 

Schon gut, schon gut! 

Paetow: ... dabei habe ich noch gar nichts über Gabriel und TTIP gesagt. – Aber Sie haben recht, schon deshalb, weil diese Debatte hypothetisch ist, denn Kanzlerkandidat wird sowieso der Poltergeist aus Brüssel: Martin Schulz. Na gut, dann vielleicht Projekt 20.

Dem Technokraten Schulz trauen Sie mehr Erfolg zu als Gabriel?

Paetow: Hm, im Grunde haben Sie recht mit Ihrem Einwand, denn eines kann man allen Sozialdemokraten nicht absprechen: Sie haben unser Land gründlich ruiniert. Mit Volldampf Richtung Dritte Welt. Die Straßen sind marode, die Schulen baufällig. Mehr Menschen denn je in prekärer Beschäftigung, die schließlich in Renten enden, die zuviel zum Sterben, doch zuwenig zum Leben sind. Aber die Leute kennen Schulz eben noch nicht gut genug. Sie wissen noch nicht, daß dieser hemdsärmelige Sozialistenrabauke auch nur ein typischer Vertreter der SPD von heute ist: laut, aggressiv, beschränkt in der Wahrnehmung faktischer Probleme, unbeirrt in idiotischen Forderungen, wahnhaft-gläubig in seiner Leidenschaft, dem „Kampf gegen Rechts“. Daß er mittlerweile lebt wie ein Renaissancefürst, umsorgt von achtunddreißig Mitarbeitern, wie Büroleiter, Vize-Büroleiter, Assistent, Berater, vier Pressesprechern, Spokesman, Redenschreiber, Terminverwalter, Bürobote, Fahrer – und einem Kammerdiener! Aber auf die Frage „Was ist Herzensbildung?“ hat er einmal geantwortet: „Die Liebe zu den Geringsten der Kleinen.“ Und wenn Schulz zwischen Brüssel, der Hochburg des Dschihadismus in Europa, und Straßburg, mit seinen gefährlichen Problemvierteln, hin und her pendelt, sieht er dank der getönten Fensterscheiben seiner Staatskarosse natürlich nichts von den Folgen der Politik, für die er Verantwortung trägt. Aber jetzt lassen Sie uns bitte nicht das gesamte SPD-Personal durchgehen, das lohnt nicht! Das ist doch eine einzige Karikaturen-Parade. Ich sage Ihnen, stünde das Willy-Brandt-Haus in Entenhausen, würden die Bewohner dort Siggi Simpel, Heiko Hetzer, Ralf Rotzig und Madame Banales heißen.

Immerhin hat Sigmar Gabriel nun erkannt, daß durch die Politische Korrektheit eine „kulturelle Distanz“ zwischen Volk und Politikern entstanden ist. 

Paetow: Ich bitte Sie, das hören Sie doch jetzt von allen Seiten, von CDU-Uschi von der Leyen wie sogar von Grünen-Kretschmann.

Sie meinen, das ist keine echte Einsicht?

Paetow: Natürlich nicht! Das hat denen entweder ihre Putzfrau – vielleicht die Susi Neumann, die Hannelore Kraft nach einer Talkshow vom Fleck weg für die SPD engagierte – geflüstert oder deren Werbeagentur. Das ist ’ne Nummer im beginnenden Wahlkampf. Botschaft: Wir haben verstanden! Leider sagen sich zu viele Wähler: „Ah, jetzt sagt es Mutti“ – oder wer auch immer – „ja selber! Dann wird alles gut.“ Aber Sie können Gabriel und Co. ja nach der Bundestagswahl nochmal danach fragen. 

Sie meinen, dann wissen die nichts mehr davon? 

Paetow: Eine rhetorische Frage, oder?

„Bisher hieß, vernünftig zu sein, das geringere Übel zu wählen. Doch was tun, wenn man nicht mehr weiß, was das geringere Übel ist?“ fragt Peter Sloterdijk. 

Paetow: Ach der Sloterdijk ... Sie lieben Ihre akademischen Zitate, Herr Schwarz. Ich übergehe ihn jetzt mal und sage: So wie ich Sie kenne, wollen Sie mich doch noch nach der AfD fragen. 

Äh ... 

Paetow: Wußte ich’s doch ... 

Ist die AfD die Lösung unseres Problems?

Paetow: Das weiß ich nicht. Und ich sage Ihnen auch warum. Weil die Wähler bei ihr das gleiche Problem haben wie bei der SPD – sie wissen derzeit nicht, wen von den Schätzeleins sie tatsächlich bekommen: Gabriel oder Schulz? Frauke, Beatrix, Alice Weidel oder das alte Schlachtroß Gauland? 

Ist das denn entscheidend?

Paetow: Es geht nur darum! Wähler lesen keine Wahlprogramme, und sie wählen auch keine Parteien – außer Stamm- und Protestwähler. Aber die Wähler in der Mitte, die den Ausschlag geben, wählen Menschen! Sie wählen den, der ihnen sympathisch ist, dem sie die Lösung von Problemen zutrauen. Nun heißt es immer, die AfD, das seien Populisten. Ja, wo denn? Populist ist einer, der im Volk ankommt. Haben die so jemanden? Trump, das ist ein Populist! Und warum? Weil er wie die Rolling Stones ist: Immer das gleiche Programm, immer die Hits: „Satisfaction“ und „Jumpin Jack Flash“. Trumps „Satisfaction“: „Wer bezahlt die Mauer?“ Und der Saal brüllt: „Mexiko!“ Am Ende mußte er einfach nur noch „Clinton“ sagen, und die Leute fingen von alleine an zu brüllen: „Lock her up! Lock her up!“ Das ist Populismus! Was die AfD dagegen macht, ist einfach den Protest einzusammeln: 15 bis 20 Prozent. Würde sie dagegen jemanden auf die Rampe schieben, der die Herzen der Leute gewinnen kann, sich empathisch und sympathisch zeigen: Wir verstehen euch und eure Probleme, und wir werden uns darum kümmern: 35 Prozent! Aber das ist, wenn überhaupt, für die noch ein verdammt langer Weg. 






Stephan Paetow, gehörte zur Entwicklungsredaktion des Focus, für den er von 1993 bis 2011 schrieb, ab 2001 als stellvertretender Chefredakteur. Paetow, geboren 1958 in Rhede/Westfalen, begann unter anderem bei Springer, wurde jüngster Redakteur des Spiegel, Vize-Chefredakteur des Lifestyle-Magazins Wiener, war Mitglied der Chefredaktion der Bunten und kommissarischer Chefredakteur von Forbes, bevor er den Focus mitgründete. Heute ist er Geschäftsführer der Wishing Well Media GmbH in München und schreibt unter anderem für Tichys Einblick. Eine Sammlung seiner dortigen Kolumne „Black Box“ erscheint am 20. Dezember als Buch: „Black Box 2016. Der etwas andere Jahresrückblick“.

 www.tichyseinblick.de

Foto: Journalist Paetow: „Meine Theorie ist, Angela Merkel ist viel schlauer als wir alle zusammen. Ich weiß, das paßt Ihnen jetzt nicht – aber hören Sie zu!“

 

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