© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Pankraz,
H.-D. Sander und die Moral der Politik

Hübsche Überschriften.  „Style and Order“ lautet der Obertitel, unter dem die gesammelten Schriften von Hans-Dietrich Sander (88)  seit neuestem im Verlag Arnshaugk erscheinen, herausgegeben von Heiko Luge. Der erste Band Anfang 2016 hieß „Der ghibellinische Kuß“, jetzt zum Jahresende kommt der zweite, und der heißt „Politik und Polis“. Man kann darin – in unveränderter Originalfassung – all die Arbeiten neu lesen, die der legendäre Politjournalist im Laufe der Zeiten zum angesagten Thema veröffentlicht hat. Die Lektüre ist höchst anregend und fordert zu wichtigen Debatten heraus.

Was sofort auffällt, ist die wie selbstverständlich über die Jahrzehnte hinweg durchgehaltene Grundposition in der Kernfrage, der Frage nämlich, ob und inwieweit verantwortbare Politik und Moral zusammengehen und wo sie divergieren, streckenweise regelrecht zu erbitterten Gegnern werden. Ob nun der junge Brecht-Assistent des Berliner Ensembles oder viel später der gereifte Herausgeber der von ihm gegründeten Staatsbriefe: stets spricht, in wechselnden Tonlagen, der überzeugte Machiavellist, für den die Politik ein ganz und gar eigener Lebensbereich mit eigener Moral ist.

„Die Politik als Staatskunst“, schreibt Sander 1983 in seinem Fragment gebliebenen „Gastmahl des Leviathan“, „gebietet bei dem unveränderlichen Befund der menschlichen Natur und den wechselnden Lagen der Politik, daß in Existenzfragen des Staates unter Umständen herkömmliche Tugenden und geltende Gesetze schweigen sollen und persönliches Interesse hinter den Erfordernissen des Staates zurückstehen muß (…) Der Princeps hat in der Regel am Guten festzuhalten, darf aber in Notfällen sich nicht scheuen, gegen Menschlichkeit und Religiosität zu verstoßen.“


An einer anderen Stelle des gleichen Textes vergleicht Sander diese von ihm markierte „machiavellische Wende in der politischen Philosophie“ mit der Hegung des Krieges, die das Ius Publicum Europaeum im neunzehnten Jahrhundert durchsetzte und die ja in der Tat eine epochale Tat des alten Europa war. Soldaten waren demnach, als Angehörige regulärer Staatsarmeen, schärfstens abzugrenzen von bloßen Stammeskriegern oder gemieteten Söldnern. Sie unterlagen strengsten Verhaltensregeln und hatten vor allem auf eine reinliche Trennung von Kombattanten und Nichtkombattanten, Kriegern und Zivilisten zu achten.

Ist aber die von Sander befürwortete „machiavellische  Wende“ in der Politik wirklich vergleichbar mit der Einhegung des Krieges im Europa des neunzehnten Jahrhunderts? Daran läßt sich zweifeln. Ein mit guten Gesetzen versehener, gut funktionierender Staat, also eine echte Polis, ist kein Kriegsgelände, in dem es dauernd um Tod oder Leben geht. Es gibt in ihm nichts einzuhegen, sondern etwas zu verbessern. „Normale“ Politiker sind keine Soldaten, sondern ordentliche Bürger. Wir brauchen hierzulande keine machiavellische Wende,  sondern eine Rückkehr zu „Style and Order“, um mit Sander zu sprechen.

Eine der wichtigsten Aufgaben der Polis, schreibt er etwa in den Staatsbriefen von 1997 unter dem Titel „Herrschaft und Machthabe“, müsse es sein, Bürgerkriege wegen religiöser oder anderer fundamentaler Glaubensfragen zu verhindern. Damit ist aber keineswegs eine Idealisierung unserer derzeitigen, weit verbreiteten Glaubenslosigkeit und Säkularisierungswut angepeilt, sondern die Sorge darüber geht um, daß hiesige Politiker aus Opportunismus und Furcht vor dem Zeitgeist die Säkularisierungwut Tag für Tag noch bestärken, freilich ausschließlich auf Kosten der eigenen Glaubenstraditionen.

Zum „Ausgleich“ wird von denselben Politikern einwandernden, hoch aggressiven, ja  todesverachtenden und auf Dauerkrieg versessenen Glaubensverbänden, welche Religion und Politik geradezu gleichsetzen, ein Ausmaß an Toleranz und Willkommenskultur entgegengebracht, daß jede, auch die stabilste Polis auf Dauer darüber zerbrechen muß. Sander legt diese fatale Dialektik in dem vorliegenden Band „Politik und Polis“ schneidend klar – und trotzdem hält er an der  These fest, daß solcherlei Politik eine „neccessità“ und ein Beweis für die Richtigkeit der machiavellischen Wende sei!


Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der berühmte Satz von Clausewitz, „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, läßt sich nicht umdrehen. Der Krieg hat keine spezifische Moral, die die Moral des sonstigen Lebens manchmal ausschalten darf, er hat überhaupt keine Moral, deshalb muß er ja von außen eingehegt werden. Der von Hans-Dietrich Sander ins Feld geführte Hinweis auf den „unveränderlichen Befund der menschlichen Natur“ sticht unter keinen Umständen, denn ob die menschliche Natur wirklich unveränderlich ist, steht durchaus in den Sternen.

Es mag sein, daß die übrige belebte Natur auf der Erde in ihrem Kampf ums Überleben und Sichfortpflanzen nur feststehende Verhaltensregeln kennt, keine zur Freiheit, zur freiheitlichen Betätigung einladende Moral, keine Fairneß, keine Gnadegewährung, keinen souveränen Verzicht auf eigene Vorteilnahme zugunsten Unterlegener. Doch wir Menschen besitzen dieses moralische Angebot der Freiheit, und wir besitzen auch die potentielle Fähigkeit, solide abzuwägen, ob und wann und inwieweit die Polis aus Gründen ihrer Selbsterhaltung die Gebote der Tugend und der Gerechtigkeit gnädig variieren darf.

Das gilt, wie in „Politik und Polis“ erfreulich ausführlich demonstriert wird, nicht nur für die gerade Herrschenden, sondern für buchstäblich alle Gruppierungen, aus denen eine Polis besteht, für den Demos wie für die Principes, für die Ausführungsorgane wie für die Aufsicht führende Justiz und für die berichtende, lustvoll mäkelnde Presse. Allesamt haben ehrlichen Herzens den Forderungen der Moral nachzustreben. Tun sie das nicht, versagt auch nur eine Seite, wird aus der Polis über kurz oder lang eine streng duftende Ochlokratie, ein Regime des Pöbels und der angemaßten Dummköpfe.