© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Zeitschriftenkritik: Traditio et Innovatio
Deutungsmacht und Wirklichkeit
Werner Olles

Ein interessantes Sonderheft widmet Traditio et Innovatio, das Magazin der Universität Rostock, dem Thema „Deutungsmacht“. Zwar ist das Funktionieren von Deutungsmacht größtenteils noch ungeklärt, doch seit einigen Jahren versuchen Forscher Licht in das Dunkel des Konzeptes sowie die begriffliche und methodische Ausarbeitung zu bringen. In diversen Projekten untersuchen sie Deutungsmacht im Kontext von Religion, Glaubens- und Überzeugungssystemen. 

Wie eng Geltungsansprüche und Deutungskonflikte beieinander liegen, zeigt der Anthropologe und Sozialphilosoph Heiner Hastedt in einem Gespräch über „Die Wahrheit und die Macht der Deutung“: „Deutungsmacht ist, wenn das Fragwürdige einer Deutung hinter der Behauptung ihrer Alternativlosigkeit versteckt wird.“ Dies bedeute für Auseinandersetzungen von der Ukraine bis Syrien, daß alles, was die Akteure da im Kopf haben und äußern, auf mehr oder weniger strittigen Deutungen basiere. Sie seien deswegen nicht falsch, doch seien auch immer andere Lesarten möglich, weil das Suchen nach und das Behaupten von Wahrheit immer auch Macht-

aspekte habe. So schlage in einer monolithischen Welt die Wirklichkeit irgendwann um so härter zurück: „Totalitäre werden nervös, wenn andere Deutungen als die herrschenden diskutiert werden – und sei es nur in kleinem Kreis.“ Ein Phänomen, das auch hierzulande gerade zu beobachten ist.

Vor allem im kulturwissenschaftlichen Kontext lassen sich vielfältige Konfliktlinien um Deutungsmachtansprüche nachzeichnen. Der Beitrag „Wahrer Glaube in Politik, Religion und Kultur“ macht dies am Beispiel Österreichs deutlich, als am 1. Mai 1933 die Innenstadt Wiens auf Befehl der christlichsozialen Bundesregierung unter Engelbert Dollfuß militärisch abgeriegelt wurde. Ziel war es, den jährlich abgehaltenen Maifeiertag der Sozialdemokratie zu unterbinden, die mit dieser Inszenierung ihren Machtanspruch durchsetzen wollte. Es war der Höhepunkt des Konflikts zwischen den beiden Lagern in der Ersten Republik (1918–1934), da beide – basierend auf ihrer sich diametral gegenüberstehenden christlich-konservativen beziehungsweise sozialistischen Weltanschauung – eine fundamentale Neuordnung verfolgten. Dabei ging es nicht nur um die politische Neuordnung der Republik, sondern um die Definierung der Rolle der Religion in Gesellschaft, Bildung und Erziehung.

Der Beitrag „Die Macht des Mythos“ beschreibt, wie in einer pluralen und tendenziell globalen „Sowohl-als-auch“-Gesellschaft klassische nationalstaatliche Identitäten zu bröckeln beginnen. Dies hänge mit dem „negativen Gründungsmythos“ Europas zusammen. Anstatt eine klare Vision von Europa zu entwerfen, was man ist und sein will, habe man sich nur von der „kriegerischen, nationalen Vergangenheit“ abgegrenzt. Ob dieser negative Gründungsmythos jedoch einen „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ inmitten einer „spätmodernen Pluralität“ hervorbringe, bedürfe noch genauerer Untersuchungen.


Kontakt: Universität Rostock, Presse- und Kommunikationsstelle. Universitätsplatz 1, 18055 Rostock.

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