© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Die Flügel der Vorstellungskraft
Leibniz als Visionär: Eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum gibt Einblicke in die Bedeutung modellhaften Denkens in der Kunst
Felix Dirsch

Auch im digitalen Zeitalter behält modelltheoretisches Denken seine die Realität beeinflussende Kraft. Zahlreiche Computer-Animationen belegen diese Erkenntnis. Der Berliner Philosoph Herbert Stachowiak (1921–2004) darf als exponierter Kenner dieser Disziplin gelten. Er stellte drei signifikante Merkmale des Modells heraus: dessen Relevanz als Abbildung, die Dimension der Verkürzung und den damit verbundenen Pragmatismus. Die unvermeidliche Reduktion der Komplexität des repräsentierten Gegenstandes ist verbunden mit einer speziellen Sichtweise der Wirklichkeit des Werkes, dessen vollendete Züge vereinfacht vorweggenommen werden.

Blättert man das Buch der neuzeitlichen Geschichte auf, so besteht kein Zweifel an der Stärke des Modells. Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen 300. Todestages die Fachwelt dieses Jahr gedenkt, gilt als Inbegriff des Universalgelehrten (JF 46/16). Neben vielen anderen Projekten lag ihm besonders eine „Societät der Wissenschaften“ am Herzen, deren Vertreter zum Nutzen eines fächerübergreifenden Wissens miteinander kooperieren sollten. Ein weit ausgreifendes „Theater der Natur und Kunst“ schwebte ihm vor. Es sollte verschiedene Sammlungen, Theater, Forschungsstätten, botanische und zoologische Gärten und vieles mehr umfassen. Neben der Sammlung von Kunstwerken, Instrumenten, Naturobjekten und Raritäten nahm er auch verschiedene Modelle in Augenschein. Letztere umfaßten Globen, Automaten, Windmaschinen, Kleinarchitekturen, etwa militärischen Charakters, und künstliche Apparate aller Art, vor allem technisch-mechanische Objekte. Leibniz’ Ansicht lautete, Modelle förderten das Denken und erleichterten das Verstehen.

Leibniz fertigte zur Erfassung der Wirklichkeit zahllose Skizzen an, darunter von „Heb- und Rüstzeugen, Wassermühlen und andern Kunstwercken“, wie er notierte. Anschauungsmaterial war ihm ebenso wesentlich wie die Erweiterung von Sammlungen, für die er Leidenschaften hegte.

Daß sich das Germanische Nationalmuseum Nürnberg im Jubiläumsjahr auf den berühmten Wegbereiter der Aufklärung besinnt, hängt mit dessen Verbindungen zu der fränkischen Stadt zusammen. Man darf vermuten, daß er bei seiner Reise im Winter 1687/88 auch Modelle dort besichtigte. Auf die Modellkammer, die bereits im 16. Jahrhundert entstanden ist, waren die Ratsherren der Stadt stolz. Für den multibegabten Hofrat, der einen hervorragenden, ihm vorauseilenden Ruf genoß, wurden die Türen dieses normalerweise verschlossenen Raritätenkabinetts gerne geöffnet.

Der Besucher der Ausstellung beginnt seinen Gang in einem eher kleinen Raum des Museums. Dort kann er fünf Druckgrafiken mit dem Konterfei Leibniz’ bestaunen. Die vielen Gemälde, Kupferstiche, Radierungen und Skulpturen, die meist nach dem Tod des Genies angefertigt wurden, sind auf der Basis von wenigen Archetypen entstanden. Diese lagen bereits zu Lebzeiten des Philosophen vor. Er war von den Abbildungen wenig begeistert, fürchtete er doch, nicht mehr inkognito reisen zu können. Das 1703 von dem seinerzeit bekannten Stechermeister Martin Bernigeroth angefertigte Porträt in Kupfer, der als Vorlage das Brustbild des Hannoveraner Hofmalers Andreas Scheits verwendete, ragt heraus. Typisch ist die lange, dunkle Allongeperücke. Die anderen vier in der Ausstellung zu sehenden Grafiken wurden postum nach dem Vorbild dieses Stiches angefertigt. Es ist ein wenig schade, daß nicht auch die restlichen vier Archetypen, die bis heute erhalten sind, berücksichtigt werden konnten.

Die Initiatoren der Ausstellung wollen sich nicht nur mit Leibniz-Darstellungen beschäftigen, sondern wählten aus dem reichhaltigen Bestand repräsentative Ausstellungsstücke aus, die den Charakter eines Modells in hervorstechender Art und Weise verkörpern. Eingeteilt werden die Modelle wie folgt: als Repräsentant, Entwurf, Vorbild, Demonstrant, Pionier, Vision und Kunstwerk. Die Spannweite der Exponate ist beachtlich. Ausgewählt wurde unter anderem der Behaim-Globus, der schon seit über einem halben Jahrtausend der Erde einen hohen Grad an Anschaulichkeit verleiht.

Zu den paradigmatischen frühneuzeitlichen Modellen gehört der Dreimaster, das sogenannte Peller-Schiff, aus dem Jahre 1603. Es zeigt den großen Wohlstand des aus Nürnberg stammenden Handelsunternehmers Peller. Ebenfalls zu den erwähnenswerten Artefakten zählt die Farbkugel des frühromantischen Malers Philipp Otto Runge (1777–1810), der verschiedene Sättigungs- und Helligkeitsgrade von Farbe auf einer Kugel darstellte. Das Modell dient hier als Pionier.

So sehr die 50 Exponate aus dem Fundus sorgfältig zusammengestellt und markiert wurden: Mancher Besucher dürfte genervt sein, eine größere Zahl von Räumen und mehrere Stockwerke abklappern zu müssen, um das vorgesehene Programm zu absolvieren. Das erweist sich als zeitaufwendig. Immerhin ist für den Besucher, der erstmals der berühmten Einrichtung seine Aufmerksamkeit schenkt, auch ein Vorteil mit dieser Art der Darbietung verbunden, die die Werke am angestammten Platz des Museums beläßt: Er lernt dessen Räume wenigstens im Überblick kennen. Hervorzuheben ist der fundierte Katalog, der das Begleitwissen zu Leibniz vermittelt, dessen „Leichtigkeit des Denkens“ in der Ausstellung höchstens am Rande zum Vorschein kommt.

Die Sonderausstellung „Leibniz und die Leichtigkeit des Denkens“ ist bis zum 5. Februar 2017 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, Kartäusergasse 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 21 Uhr, zu sehen. Der Katalog mit 152 Seiten und 123 farb. Abbildungen kostet im Museum 18,60 Euro. Telefon: 09 11 / 13 31-0

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