© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Das Unbehagen in der Suhrkamp-Kultur
Der neomarxistische Literaturwissenschaftler Peter Bürger beklagt den Niedergang der linken Intelligenz
Siegfried Gerlich

Über Jahrzehnte war Peter Bürger ein renommierter Stammautor des Hauses Suhrkamp und gleichsam der Dritte im Bunde neue Paradigmen setzender Literaturwissenschaftler: In feindlicher Nähe zum konservativen Karl Heinz Bohrer wie zum liberalen Hans Robert Jauß bewährte sich der linke Romanist in zahlreichen Büchern als innovativster Ästhetiker der neuen Frankfurter Schule. 

Bürgers 1974 erschienene „Theorie der Avantgarde“ knüpfte an die kulturrevolutionären Utopien der Dadaisten und Surrealisten an, um die in der bürgerlichen Gesellschaft gehegte „Autonomie der Kunst“ zu zerstören und alle künstlerische Kreativität der sozialen Lebenswelt dienstbar zu machen. Doch angesichts der freundlichen Übernahme dieses ästhetischen Demokratisierungsprogramms durch Kulturindustrie und Populärkultur fand Bürger postavantgardistische Kunstkonzepte wie etwa die „engagierte Literatur“ schon bald auf verlorenem Posten wieder. 

Und je eingehender er sich sodann mit dem „Altern der Moderne“, dem „Ursprung der Postmoderne“ und dem „Verschwinden des Subjekts“ befaßte, um so entschiedener zeigte er sich um eine „kritische Rettung“ der bürgerlichen Kulturtradition bemüht. Auch in seiner Lehrtätigkeit an der Universität Bremen setzte sich Bürger modernitätskonservativ gegen die Austreibung des alteuropäischen Geistes aus den Geisteswissenschaften und deren Umerziehung zu Kulturwissenschaften angloamerikanischen Typs zur Wehr.

Vor diesem Hintergrund stand beinahe zu erwarten, daß dieser immer schon über die Grenzen seines Fachs hinaus philosophierende Literaturwissenschaftler einmal auch die zeitgenössische deutsche Geschichtspolitik unzeitgemäßer Betrachtungen würdigen würde. Der Klartext jedoch, in dem Bürger in seinem neuen Buch „Nach vorwärts erinnern“ die desaströsen Folgen des kommoden Marsches der 68er durch die Institutionen zur Sprache bringt, nötigt allen Respekt ab. 

Wie in einem französischen Desillusionsroman schildert er den studentischen Aufbruch als eine „Morgenröte, auf die kein Mittag folgte“. Denn die faktisch bürgerliche Protestgeneration, die in einem restaurativen Nachkriegsdeutschland lediglich den reformatorischen Auftrag hatte, die Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben, erlag einem von hybridem Wunschdenken getragenen proletarisch-revolutionären Selbstmißverständnis. Und aus diesem Sündenfall von „68“ folgten alle weiteren Übel: die Preisgabe des deutschen Kulturerbes und der abendländischen Geistestradition überhaupt, aber auch das geschichtspolitische Projekt, „die nationale Identität auf das Schulderbe der Deutschen zu gründen“. Weit davon entfernt, eine authentische „Kultur der Besinnung“ zu repräsentieren, vertrug sich diese obsessiv um den Holocaust kreisende Erinnerungskultur bestens mit unserer „postmodernen Spaßkultur“.

Diesem epochalen Traditionsabbruch ist es nach Bürger auch geschuldet, daß die hohe Zeit der „kritischen Intellektuellen“ von Rousseau bis Adorno unwiederholbar vorüber ist, brachte deren „menschgewordene Dissonanz“ doch ein existentielles „Leiden an der Gegenwart“ zum Ausdruck, wie es allein aus der Bindung an eine als verpflichtend erfahrene Vergangenheit erwachsen konnte. Seit an deutschen Universitäten aber noch „die Reste der Humboldtschen Idee der Bildung zerstört“ worden sind, sieht Bürger einen neuen, strategisch kalkulierenden Intellektuellentypus im Vormarsch, hinter dessen politisch korrektem Engagement allemal ein zynischer Wille zur Diskursmacht lauert.

Bürger nennt Untergang des Abendlandes beim Namen

In den Geisteswissenschaften selbst führt Bürger diesen von zunehmender Selbstbornierung geprägten Mentalitätswandel bemerkenswerterweise auf die „verweigerte Lektüre von als konservativ und reaktionär geltenden Autoren“ zurück. Entsprechend sind die in diesem Buch versammelten Essays zu Nietzsche, Klages und Spengler von dem Wunsch getragen, „das Versäumte wiedergutzumachen“ und – wie schon von Ernst Bloch gefordert – „das Irrationale nicht den Rechten zu überlassen“. 

Aber auch Bürgers „Relektüren“ von Hegel, Burckhardt und Sartre verstehen sich als „Wiederholung“ im Sinne Kierkegaards: es gilt „nach vorwärts“ zu erinnern, um Motive unabgegoltener Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuretten. Und wirklich läßt die erfrischende Unbefangenheit, mit der Bürger hier zu Werke geht, ihn unverhoffte „Stichwortgeber der Frankfurter Schule“ entdecken: So verdankt Walter Benjamin seinen Begriff der „Aura“ jenen von Klages als „Erscheinungen der Ferne“ charakterisierten „Urbildern“, und überhaupt hielt der jüdische Denker dessen neuheidnische Lehre von der „Wirklichkeit der Bilder“ für eine so „weittragende Konzeption“, daß er sie für seine im „Passagenwerk“ unternommene Suche nach den „Archetypen der Moderne“ fruchtbar machte. 

Adorno wiederum wurde maßgeblich durch Spenglers anthropologische Betrachtungen zu Weltangst und Naturbeherrschung auf die tragische Verschlingung von Mythos und Vernunft gestoßen, und folgerichtig deutet Bürger die „Dialektik der Aufklärung“ als eine katastrophentheoretische Verschärfung von dessen kulturpessimistischer Krisendiagnose. 

Bewundernswert ist im übrigen die Gelassenheit, mit der Bürger den Untergang des Abendlandes ohne Anführungsstriche beim Namen nennt und dem Leser die abendländisch-christliche Geistesgeschichte als vielfach verleugnete Voraussetzung unserer modernen Aufklärungskultur in Erinnerung ruft – nicht ohne die geschichtsvergessene und bildungsferne Linke unserer Tage als deren trostlose Schwundform bloßzustellen. 

Mit dialektischem Geschick hat der Autor sein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten längst vergilbter Schriften in den Dienst einer Aufarbeitung der nahen Vergangenheit von „68“ gestellt, welche zumal in ihren autobiographischen Bezügen als ein selbstkritischer Lernprozeß imponiert. Peter Bürgers schönes Büchlein ist im Wallstein-Verlag erschienen, der demnächst auch seine „Theorie der Avantgarde“ neu herausgeben wird.

Peter Bürger: „Nach vorwärts erinnern.“ Relektüren zwischen Hegel und Nietzsche. Wallstein Verlag, Göttingen 2016, gebunden, 160 Seiten, 19,90 Euro