© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Ein deutscher Visionär
200 Jahre Werner von Siemens – Von einer Berliner Hinterhofwerkstatt zum globalen Mischkonzern
Thomas Fasbender

In Zeiten von Krise und Ungewißheit bieten Jubiläen oftmals Stütze und Halt. So auch beim Siemens-Konzern, der zusammen mit dem deutscher Softwarehersteller SAP bezüglich der Marktkapitalisierung zu den beiden Dax-Schwergewichten zählt. Die Siemensianer, wie sich die Mitarbeiter des globalen Mischkonzerns nennen, feiern kommenden Dienstag den 200. Geburtstag von Unternehmensgründer Werner von Siemens und im kommenden Jahr ihr 170. Firmenjubiläum. Daß der offizielle Festakt schon vorige Woche stattfand, war wohl allein dem Terminkalender der beiden Hauptredner – Kanzlerin Angela Merkel und Vorstandschef Josef Käser, der sich seit seiner Zeit in den USA Joe Kaeser nennt – geschuldet.

Vom preußischen Leutnant zum Unternehmensführer

Auch wenn die Jahrzehnte vor und nach 1900, als deutscher Erfindergeist die Welt in Atem hielt, längst vorüber sind – jede Gelegenheit ist willkommen, nostalgisch nach hinten zu schauen. Außerdem belegt Deutschland mit jährlich fast 600 Patentanmeldungen je Million Einwohner immer noch den vierten Rang im weltweiten Patentindex. Anders allerdings als die Quantensprünge des Industriezeitalters – Chemie, Elektrotechnik, Maschinenbau – wurzeln die des Biotech- und Internetzeitalters weder hierzulande noch überhaupt auf dem europäischen Kontinent.

Dabei waren Karrieren wie die von Bill Gates oder Steve Jobs – vom Garagenbastler zum Milliardär – einst auch in Deutschland möglich. Und das sogar in den vermeintlich muffigen, biedermännischen Jahren des Vormärz, der Zeit vor der Revolution von 1848. Wie sonst wäre der Aufstieg des preußischen Artillerieleutnants Werner Siemens ohne Abitur und Studium denkbar gewesen? Eines Vorbestraften zudem, der 1840 wegen seiner Teilnahme als Sekundant an einem Duell zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden war und bis zur raschen Begnadigung in seiner Zelle mit Verfahren zur elektrischen Galvanisierung experimentieren durfte. Die Technologie, mit Hilfe von Batteriestrom einen Gegenstand mit einer Silber- oder Goldschicht zu überziehen, verkaufte er nach der Entlassung an einen Juwelier. 

Früh schon muß Siemens gespürt haben, was für ein Talent ihm da in die Wiege gelegt worden war. Er erfand wie wild: ferngezündete Seeminen, die 1848 in der Kieler Förde gegen die dänische Marine eingesetzt wurden; einen neuartigen Regler für Dampfmaschinen; eine Presse zur Herstellung von Kunststein; ein Druckverfahren; eine Technologie, um stromführende Drähte nahtlos mit Guttapercha, einem kautschukähnlichen pflanzlichen Produkt zu umhüllen.

Daß er sich vom tüftelnden Erfinder zum Großunternehmer wandelte, dafür sorgte letztlich der elektrische Zeigertelegraf. Dessen Vorteil lag darin, daß er auch ohne Kenntnis des Morsealphabets zu bedienen war. Einen ersten Prototyp hatte der Engländer Charles Wheatstone einige Jahre zuvor gebaut. Siemens und sein Partner Johann Georg Halske verbesserten das englische Modell, und im Oktober 1847 gründeten sie die „Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske in Berlin“. Mit drei Arbeitern nahmen sie in einer Hinterhaus-Werkstatt den Betrieb auf.

Elektrische Straßenbahn und Hochgeschwindigkeitszug

Der erste Großauftrag kam im Jahr darauf. Vor der Zusammenkunft der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche bestellte die preußische Telegrafenkommission eine Zeigertelegrafen-Verbindung von Frankfurt nach Berlin. Im März 1849 wußte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. dann in weniger als einer Stunde, daß die Abgeordneten ihn zum Staatsoberhaupt eines deutschen Nationalstaats gewählt hatten. Nach 1852 baute Siemens & Halske die Telegrafenlinie von Warschau über St. Petersburg nach Moskau. 1855 wurde die erste Auslandsniederlassung in St. Petersburg unter der Leitung des Siemens-Bruders Carl gegründet. Das Unternehmen erweiterte das russische Telegrafennetz bis Odessa. Zeitweise war die russische Tochter größer als die Berliner Mutter.

Ein weiterer Bruder, Wilhelm Siemens, später Sir William, leitete die 1858 gegründete zweite Auslandsniederlassung in London. Aufgrund der Siemens-Erfindung einer nahtlosen Isolierung mit Guttapercha ließen sich Kabel auch im Meerwasser verlegen. Nachdem für die Übermittlung einer 103-Worte-Botschaft der britischen Königin Victoria an den US-Präsidenten 16 Stunden erforderlich waren, entwickelten die Siemens-Brüder 1873 ein eigenes Kabelschiff, die Faraday. Mit eigens entwickelten Bremsdynamometern, seitlich angebrachten Schaufelrädern und einem Zusatzruder am Bug war sie bahnbrechend. 1875 ging das Siemens-Kabel in Betrieb; die Konkurrenz der US-Gesellschaft Atlantic Telegraph war chancenlos.

Trotz aller Globalisierung vergaß Siemens nie seine Mitarbeiter: Wie Carl Zeiss, Robert Bosch oder Sigmund Schuckert schuf der Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei in seinem Unternehmen eine Kranken- und Pensionskasse und führte 1873 den Neun-Stunden-Tag bei guter Bezahlung ein. „Mir würde das Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen, wenn ich den treuen Gehilfen nicht den erwarteten Anteil gäbe“, soll Siemens laut Biograf Wilfried Feldenkirchen geschrieben haben.

Siemens’ nachhaltigste Entdeckung war das dynamoelektrische Prinzip und darauf aufbauend die Dynamomaschine. 1876 konstruierte er einen Kurbelinduktor mit Doppel-T-Anker nicht auf Basis eines Dauer-, sondern eines Elektromagneten. Der Erkenntniswert des Experiments lag darin, daß die Bewegung des Ankers relativ zur Spule einen Strom erzeugt, daß also mechanische Energie sich in elektrische verwandelt und der Prozeß umkehrbar ist – sowohl Dynamo als auch Elektromotor waren erfunden.

Vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften sagte der Erfinder 1867: „Der Technik sind nun Mittel gegeben, elektrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Art überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist.“ Ein Beispiel war die weltweit erste elektrische Straßenbahn vom heutigen Berlin-Lichterfelde Ost zur Preußischen Hauptkadettenanstalt an der jetzigen Finckensteinallee im Jahr 1881.

Auf Basis der weiterentwickelten dreipoligen Drehstromtechnik erreichte 1903 – elf Jahre nach dem Tod des Firmengründers – ein Spezialzug auf der Schnellbahnstrecke Marienfelde–Zossen die unglaubliche Geschwindigkeit von 210 Kilometern pro Stunde. Der Pannenzug ICE-T, bei dessen zweiter Serie Siemens hundert Jahre später Konsortialführer war, erreicht maximal 230.

Multimedia-Projekt über „Werner von Siemens – Macher und Visionär“:  www.siemens.com