© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Lieber Knast als Ausreise
Ausländerrecht: Aktuell aufsehenerregende Fälle rücken die Frage in den Fokus, was mit straffällig gewordenen Ausländern passiert
Heiko Urbanzyk

Die sich in Kürze jährenden massenhaften Übergriffe meist junger Nordafrikaner auf Frauen zu Silvester in Köln sowie der mutmaßliche Sexualmord von Freiburg rücken die Frage in den Vordergrund, was den Tätern im Falle ihrer Verurteilung eigentlich an ausländerrechtlichen Konsequenzen droht? Auf dem Papier lesen sich die recht abschreckend. Wer jedoch der Überzeugung ist, die Verurteilten würden nach Verbüßung ihrer Strafe automatisch abgeschoben, hat die Rechnung ohne die zum 1. Februar 2016  eingeführte Änderung des Aufenthaltsgesetzes gemacht. 

Um die ausländerrechtlichen Folgen von Straftaten zu verstehen, muß die juristische Unterscheidung von Ausreisepflicht, Ausweisung und Abschiebung bekannt sein. Ausreisepflichtig ist, wer zum Beispiel den erforderlichen Aufenthaltstitel nicht (mehr) hat. Der Aufenthaltstitel wiederum erlischt im Falle der Ausweisung. Kurz gesagt: Wer etwa infolge einer Straftat ausgewiesen ist, hat keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel mehr und ist ausreisepflichtig. 

Geht der nunmehr illegal in Deutschland lebende Ausländer nicht freiwillig, folgt die Vollstreckung der Ausreisepflicht: Die Abschiebung erfolgt auf Kosten des Betroffenen – zumindest laut Gesetz, sofern es etwas zu holen gibt. 

Das neue Ausweisungsrecht des Aufenthaltsgesetzes trägt dem Umstand Rechnung, daß die Europäische Menschenrechtskonvention (in Artikel 8) ausdrücklich eine ergebnisoffene Abwägung fordert, bevor ein Staat seine unliebsamen, kriminellen Gäste vor die Tür setzt. Nach dem neuen Paragraphen 53 wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Eingeschränkt wird dies durch die Voraussetzung, daß eine umfassende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles ergibt, das Ausweisungsinteresse des Staates überwiege das Bleibeinteresse des Ausländers. Zu berücksichtigen sind dabei die Dauer des Aufenthaltes, persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen im Bundesgebiet und dem Herkunfts- oder Aufnahmestaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner. 

Ein besonders schwerwiegendes oder bloß schwerwiegendes Ausweisungsinteresse liegt etwa bei einer Verurteilung zu Freiheits- oder Jugendstrafen von mehr als zwei Jahren vor, bei Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere bei Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigungen, bei einer Leitungsfunktion in einem rechtskräftig verbotenen Verein, bei Betäubungsmitteldelikten, (sogar im Fall des Konsums von Heroin und Kokain ohne Behandlungswilligkeit), bei der Störung der Integration anderer Ausländer (sogar innerhalb der eigenen Familie), bei der Nötigung zur Zwangsehe, bei Verstößen gegen sonstige deutsche Rechtsnormen, behördliche Verwaltungsakte oder Auflagen. Derartige Verstöße müssen nicht zwingend ausgeurteilte Straftaten darstellen, solange die Tatsachen dazu ausreichend belegt sind.

Dagegen liegt ein besonders schwerwiegendes oder bloß schwerwiegendes Bleibeinteresse vor bei Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis, die als Minderjährige eingereist sind und sich mindestens fünf Jahre legal aufgehalten hatten. Gleiches gilt für Ausländer, die in einer Lebensgemeinschaft mit Deutschen leben, Familienangehörige oder Ehe-/Lebenspartner von Deutschen sind. Ein Bleibeinteresse liegt auch vor, wenn der Betreffende minderjährig ist, seine Eltern sich legal in Deutschland aufhalten oder er Sorge- und Umgangsberechtigter von minderjährigen Deutschen ist. Die Auflistung ist nicht vollständig. Argumente für oder gegen eine Ausweisung lassen sich viele finden. 

Gegenüber anerkannten Asylberechtigten, Inhabern sonstiger Flüchtlingsausweise und Inhabern einer Daueraufenthaltserlaubnis darf die Ausweisung nicht aus generalpräventiven Gründen erfolgen – also nicht zur bloßen Vergeltung und Abschreckung. Dies gilt auch für türkische Staatsangehörige, die unter das Assoziationsabkommen fallen, das Türken in einigen Rechtsbereichen EU-Bürgern gleichstellt. Assoziiert sind türkische Arbeitnehmer (ab einem Jahr Tätigkeit für denselben Arbeitgeber) und deren legal zugezogene Angehörige.

Ausweisungsrecht fordert Abwägung im Einzelfall   

Ist eine Ausweisung rechtskräftig, folgt die Vollstreckung in Form der Abschiebung. Häufig scheitern die Ausweisungen an Paragraph 25 des Aufenthaltsgesetzes, in dem es heißt: „Einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist.“ Es ist der ultimative Auffangtatbestand für alle, die eigentlich gehen müßten. Wer tatsächlich ein Sorge- und Umgangsrecht mit Minderjährigen ausübt, pflegebedürftige Eltern betreut, unverschuldet paßlos ist – ein Verschulden läßt sich fast nie nachweisen –, wer also ohne Zielland für die Abschiebung ist oder den dortigen Behörden als unerwünscht gilt, kann bleiben. Zudem dürfen sogenannte „faktische Inländer“ bleiben, die nach den Umständen des Einzelfalles hierzulande verwurzelt sind.

Eine quasi-ausländerrechtliche Besonderheit hält Paragraph 456a Strafprozeßordnung für kriminelle Ausländer bereit. Danach kann von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe abgesehen werden, wenn der Verurteilte aus Deutschland abgeschoben, zurückgeschoben oder zurückgewiesen wird.

Wer „faktischer Inländer“ ist, wird nicht abgeschoben

In der Praxis sieht das so aus: Der Strafverteidiger ruft den Staatsanwalt an und fragt, ob sich dieser die mögliche Ladung zum Haftantritt, künftige Haftkosten etc. nicht sparen möchte, wenn der Mandant nach Rechtskraft des Urteils freiwillig Deutschland verläßt. Auch viele Juristen kennen die Norm nicht aus der Praxis. Was auch daran liegt, daß ausländischen Mandanten oft der deutsche „Knast“ im Zweifel lieber ist als die Ausreise ins Herkunftsland.

Angesichts dieser gesetzlichen Lage ist absehbar, daß Delikte wie „Grapschen“ kein „überwiegendes Ausweisungsinteresse“ begründen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bestätigte jüngst immerhin die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung eines Irakers, der im Jahr 1996 als Fünfjähriger nach Deutschland gekommen war. Jüngst fiel er jedoch durch Drogenkonsum, Raub- und Körperverletzungsdelikte auf, für die er zuletzt dreieinhalb Jahre Haftstrafe verbüßte.

Die obersten Verwaltungsrichter Bayerns sahen in dem Ausweisungsbescheid nach altem Recht aus dem Jahr 2014 kein Problem: „Dem Kläger als jungem Mann kann zugemutet werden, daß er in den autonomen kurdischen Teil des Irak, etwa in die Nähe seines Geburtsortes Arbil, übersiedelt, und sich dort ein neues Leben aufbaut, auch wenn er dort keine nahen Angehörigen mehr haben sollte.“ Die damit verbundene Trennung von Mutter und zwei Schwestern nach gemeinsamem 22jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet stelle zwar einen erheblichen Eingriff in sein durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschütztes Privatleben dar. Der sei aber noch als verhältnismäßig anzusehen, „wenn man die andernfalls bei Verbleiben im Bundesgebiet fortbestehende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter dritter Personen gegenüberstellt“. Dem Kläger könne zugemutet werden, die arabische Landessprache des Irak in erforderlichem Umfang zu erlernen. Da der 24jährige Iraker keine Zeiträume längerer Erwerbstätigkeit nachweisen könne, käme es auch nicht darauf an, daß er zwischenzeitlich die Grundlage für eine Berufsausbildung gelegt habe. 

Freilich, die nunmehr rechtskräftige Ausweisung bedeutet noch längst kein (zwangsweises) Verlassen deutschen Bodens. Um die Abschiebung dürfte wie stets in solchen Fällen nun das nächste behördliche Verfahren samt anschließendem Gerichtsverfahren anstehen. Vielleicht wird ja die Mutter des Irakers zwischenzeitlich pflegebedürftig ...





Ausländer  gleich Ausländer

Die roten Strafakten von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten ziert ein eigens angebrachter Signalaufkleber mit dem Wort „Ausländer“. Gemäß der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra) wird die Ausländerbehörde informiert, sobald Anklage gegen einen nichtdeutschen Staatsbürger erhoben wird. Das kann ein jüngst eingereister Asylbewerber aus Ghana sein, das kann aber auch ein in Deutschland geborener Enkel eines türkischen Gastarbeiters sein, der noch den türkischen Paß hat. Vor Gericht gilt: „Ausländer gleich Ausländer“.  Über die MiStra erhält die Ausländerbehörde dann auch das entsprechende Urteil, das in ihre aufenthaltsrechtliche Entscheidung einfließt.