© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Nachwuchs bekommen
Indigene Völker: Der harte Kampf der Yanomami und anderer Gruppen ums Überleben / Neue Siedlung entdeckt
Marc Zoellner

Ein Jahr lang herrschte Schweigen im Wald. Geschlagene zwölf Monate hatte die Regierung Brasiliens kein Lebenszeichen von den Moxihatetema vernommen, keine Anzeichen einer Siedlung entdecken können, keinen Rauch über dem schier endlosen Blätterdach des lateinamerikanischen Dschungels aufsteigen sehen. Befürchungen kursierten in der Funai, der brasilianischen Staatsbehörde für die Rechte der indigenen Bevölkerung des Landes, die Moxihatetema könnten ihr angestammtes Siedlungsgebiet verlassen haben, oder – schlimmer noch – durch Mord oder Krankheit ausgestorben sein.

Dann, im September dieses Jahres, erreichte überraschend eine positive Nachricht die Öffentlichkeit: Die Moxihatetema waren noch am Leben. Ein Kleinflugzeug, ausgesandt von der Funai, um die Behausungen illegal eingewanderter Goldgräber im Reservat der Yanomami aufzuspüren, hatte eine Rodung mitten im Urwald entdeckt. Kaum einen Viertelhektar groß, beherbergte die abgeholzte Fläche einen Maloca, jene typische Wohnstruktur kreisrund angeordneter Flachdächer, in welcher die Moxihatetema zu siedeln pflegen. 

Doch das Erstaunliche daran erschloß sich den Forschern erst bei näherer Begutachtung: Auf den aus weiter Entfernung aufgenommenen Luftbildern waren zwei Dächer mehr zu erkennen als noch im Vorjahr. Die Moxihatetema hatten Familienzuwachs bekommen. Doch eine Entwarnung konnte nicht gegeben werden. Denn nur ein paar Tagesreisen vom Dorf der Moxihatetema entfernt verzeichnete die Funai noch weitere Ansiedlungen. 

„Die Moxihatetema sind in großer Gefahr“

Rund 5.000 Goldgräber und Minenarbeiter, sogenannte Garimpeiros, schätzt die brasilianische Behörde, leben mittlerweile in engster Nachbarschaft zu dem bedrohten indigenen Stamm. Und täglich rücken deren Schürfgebiete näher an die Maloca der Moxihatetema heran.

„Die Moxihatetema sind in großer Gefahr“, mahnte der Vorsitzende des Yanomami-Stammesverbunds Hutukara, Davi Kopenawa Yanomami, Mitte November im Interview mit der britischen Tageszeitung The Guardian. „Aber nicht nur sie, sondern sämtliche Yanomami-Völker der Region. Jedes Jahr kommen mehr Garimpeiros. Sie respektieren unser Territorium nicht. Die Regierung muß mehr unternehmen, um sie davon abzuhalten, in unser Land einzudringen.“

Die Moxihatetema sind einer von drei noch immer unberührt lebenden Stämmen der Yanomami-Indianer, einer rund 35.000 Menschen zählenden, im unwegsamen Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela beheimateten indigenen Minderheit. Daß sie lange Monate unentdeckt blieben, erklärt sich vor allem aus der Weitläufigkeit ihres Stammesgebiets: Mit 96.000 Quadratkilometern umfaßt das Terrain der Yanomami eine Fläche von mehr als der doppelten Größe der Schweiz. 

Denn neben dem Vorteil ausgedehnter Jagd- und Anbaugebiete – die Yanomami betreiben Kleingartenkulturen mit Yams, Bananen, Zuckerrohr und Papayas – schützt ihre abgeschiedene Lage bedrohte Völker wie die Moxihatetema, die kaum noch mehr als hundert Köpfe zählen, auch effektiv vor dem Einschleppen von solchen Krankheiten, welche in der Zivilisation meist harmlos, in den unberührten Reservaten der indigenen Stämme Lateinamerikas jedoch oft tödlich verlaufen können.

Die Moxihatetema sind einer jener isolierten Stämme weltweit, welche bis heute keinen Kontakt zur Außenwelt pflegen. Gut die Hälfte dieser rund einhundert Völker ist allein in der dicht bewaldeten Bergregion des Dreiländerecks zwischen Brasilien, Venezuela und Peru zu finden. Doch auch in Schwarzafrika, im Indischen Ozean sowie in Südostasien stoßen Siedler, Forscher und Regierungen immer wieder auf noch unbekannte, zurückgezogen lebende Stämme.

 Manche dieser Völker haben dabei eine durchaus beachtliche kulturelle Eigenleistung aufzuweisen: Als britische Beamte in den 1940ern die Puroik entdeckt hatten, ein an der Grenze zum Königreich Bhutan lebendes, etwa 7.000 Mitglieder umfassendes ostindisches Volk, waren diese bereits seßhaft, betrieben Ackerbau und Töpferei. Andere – so wie die im Vietnamkrieg von Soldaten entdeckten zentralvietnamesischen Ruc – lebten bis zu ihrem Erstkontakt noch immer nomadisch in Höhlen und Erdlöchern und betrieben ihr Tagewerk als Jäger und Sammler. Oder leben heute noch auf diese Weise.

Denn im Gegensatz zu den Ruc, welche von der vietnamesischen Regierung nach Kriegsende in feste Steinhäuser zwangsumgesiedelt worden sind, wehren sich auch dieser Tage noch viele der isolierten Völker gegen unerbetenen Besuch. So wie die auf der zu Indien gehörenden Andamanen-Inselgruppe lebenden Sentinelesen, denen möglicherweise selbst das Feuermachen noch unbekannt ist. Nur wenige Tage nach der verheerenden Tsunamikatastrophe von 2004, bei der über 230.000 Menschen ums Leben kamen, entsandte das indische Militär einen Helikopter auf die Andamanen, um nach Überlebenden unter den Ureinwohnern Ausschau zu halten. 

Zuviel Kontakte sollen verhindert werden 

Anders als die meisten Anrainer am Indischen Ozean schienen die Sentinelesen jedoch keine Verluste beklagt zu haben. Sie vertrieben gar die Soldaten mit einem Pfeilhagel und verhinderten dadurch erfolgreich eine Landung des Hubschraubers auf ihrer Insel. Zwei Jahre später starb auf ähnliche Weise die Crew eines Fischerboots, die in sentinelesischen Gewässern gewildert hatte. Die Insel der Sentinelesen gilt seitdem als Sperrgebiet.

Vorfälle dieser Art mit oftmals tödlichem Ausgang verzeichnen auch die Behörden Lateinamerikas regelmäßig. In Atalaya, dem letzten Vorposten der Zivilisation an der Quelle des Rio Madre de Dios, warnt Perus Regierung  Abenteurer und Extremtouristen ausdrücklich vor der Weiterreise in die Stammesgebiete seiner autochthonen Minderheiten. „Vorsicht!“ verkünden hier mannshohe Schilder, auf denen Pfeile und Bögen abgebildet sind. „Dies ist die Grenze zum Gebiet der isolierten indigenen Völker. Versuchen Sie nicht, diese zu kontaktieren. Geben Sie ihnen keine Kleidung, keine Nahrung, keine Werkzeuge oder irgend etwas anderes. Fotografieren Sie sie nicht: Sie könnten die Kamera als Waffe mißverstehen.“

Die Sicherheit der Ureinwohner steht dabei nicht unbedingt an vorderster Stelle, sondern vielmehr jene der legalen wie illegalen Öl- und Minenarbeiter: Die peruanische Regierung erkannte die Existenz isolierter Stämme in ihrem Land lange Zeit nicht einmal an. So schrieb Perus sozialdemokratischer Präsident Alan García, der das Land von 1985 bis 2011 mit Unterbrechung regierte, noch im November 2007 in einem viel beachteten Beitrag für die Zeitung El Comercio: „Das Öl ablehnend, haben Umweltschützer die Gestalt des [mit der Zivilisation] unverbundenen Amazonas-Ureinwohners erschaffen, von welchem sie behaupten, er sei noch unbekannt, aber mutmaßlich existent. Daraus resultierend“, folgerte García, „sollen [den Umweltschützern nach] Millionen von Hektar an Land nicht erkundet und das peruanische Öl in der Erde begraben bleiben, obwohl der Barrel auf dem Weltmarkt mittlerweile 90 Dollar kostet.“

Der Medienverantwortlichen des peruanischen staatlichen Ölunternehmens sprach García dabei aus der Seele. „Das ist wie beim Loch-Ness-Monster“, hatte Cecilia Quiroz von Perupetro im Sommer des gleichen Jahres schon verkündet. „Jeder scheint von diesen isolierten Völkern gehört oder sie gar gesehen zu haben. Aber keiner kann den Beweis für deren Existenz erbringen.“

 Kompromißlos beharrte die peruanische Regierung auch in der Folgezeit auf ihrem wirtschaftlichen Primärziel der gewinnbringenden Ausbeutung der rohstoffreichen Indianerregionen. Mit fatalen Folgen für letztere: Als Hunderte Indianerstämme im Sommer 2009 aufgrund einer angekündigten Exploration ihres Territoriums durch peruanische und argentinische Ölkonsortien zu Demonstrationen in der Hauptstadt Lima aufriefen, ließ García diese blutig niederschlagen. Über 70 Menschen – zum Großteil Indianer – starben während der eine Woche dauernden Straßenkämpfe mit Armee und Polizeikräften; etliche weitere trugen zum Teil schwere Verletzungen davon.

Von Auseinandersetzungen mit zugezogenen Arbeitern blieben auch die Ureinwohner Brasiliens in ihrer jüngeren Geschichte nicht verschont. Traurige Berühmtheit erlangten die Akuntsu, von welche in den 1980ern nur ganze fünf Mann die von Viehzüchtern begangenen Massaker an ihrem Stamm überlebt hatten. Andere Völker verschwanden mit der Zeit spurlos – oder ließen, wie beim „Mann im Loch“, benannt nach den von ihm gegrabenen Behausungen, nur einen letzten, einsam im Dschungel jagenden Angehörigen für die Gegenwart zurück. „In gerade einmal fünfzig Jahren starben 87 der 230 Ureinwohnerstämme Brasiliens aus“, konstatierte der auf isolierte Stämme spezialisierte Journalist John Lee Anderson diesen August in der New York Times. „Und diejenigen, welche übriggeblieben sind, haben bis zu vier Fünftel ihrer Bevölkerung verloren.“

Die Yanomami, zu denen auch die kürzlich wiederentdeckten Moxihatetema gehören, teilen dieses Schicksal: Auch sie wurden bereits Opfer von Massakern. So wie im Sommer 1993 in der Region von Haximu, als Angehörige der Yanomami-Indianer die Hängematte eines Garimpeiro gestohlen hatten und daraufhin zum Ziel einer Strafexpedition der illegalen Goldschürfer wurden. Siebzehn Indigene wurden beim Rachefeldzug der Arbeiter ermordet, das komplette Dorf von Haximu niedergebrannt. Als „Völkermord“ beklagten Menschenrechtsorganisationen wie die in London ansässige Survival International die Bluttat im Amazonasgebiet.

Um Vorfälle wie jenen von Haximu künftig zu verhindern, chartert die Funai-Behörde seit einigen Jahren regelmäßig Erkundungsflüge über dem dichten Urwald des westlichen Brasilien. Sie dienen dem brasilianischen Militär als Aufklärung für Operationen gegen die illegalen Siedlungen der Garimpeiro.

 Doch zum Mißfallen von Anthropologen, Menschenrechtlern sowie Vertretern der Yanomami-Föderation mit stetig schrumpfendem Budget: Allein in diesem Jahr kürzte die Regierung die Haushaltszuteilungen für die Funai um nahezu 38 Prozent. „Ich glaube nicht, daß unser Präsident begreift, mit welcher Gefahr wir hier konfrontiert sind“, beklagt Davi Kopenawa Yanomami. Denn auch im endlos erscheinenden Dschungel Lateinamerikas ist das Rückzugsgebiet indigener Stämme nur begrenzt vorhanden. Nicht überall findet sich auf dem kargen Urwaldboden fruchtbares Erdreich zur Rodung, zum Nahrungsanbau und zur Jagd – die Vorposten der menschlichen Zivilisation jedoch immer öfter. Und selbst ungewollt kann auch der leichteste Kontakt mit diesen zum schnellen Aussterben  des ganzen Stammes führen.