© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Pankraz,
G. E. Lessing und das Wörtlein Tatsache

Hätten die Herrschaften von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden nicht besser bis zum 10. Januar des kommenden Jahres warten sollen, bevor sie ihre Entscheidung über das „Wort des Jahres 2016“ bekanntgaben? „Postfaktisch“ heißt heuer ihr Wort, wie wir vorige Woche über alle Medien mitgeteilt bekamen. Aber am 10. Januar gibt traditionellerweise die „Sprachkritische Aktion der Universität Frankfurt am Main“ ihr „Unwort des Jahres“ bekannt – und auch dieses könnte, wie Pankraz aus sicherer Quelle erfuhr, „postfaktisch“ heißen. Sind Wort und Unwort von nun ab identisch?

Ihr jeweiliges „Wort des Jahres“, versichert die GfdS, sei nach keiner Richtung hin moralisierend gemeint, es markiere lediglich die Neuartigkeit, Vielgebrauchtheit und momentane  Popularität eines Wortes. Die Kür von „postfaktisch“ verdanke sich also einzig dem Tatbestand, daß im öffentlichen Diskurs zunehmend Emotionen an die Stelle von Fakten träten. Immer größere Bevölkerungsschichten seien aus Widerwillen gegen „die da oben“ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Die Entscheidung der Jury, so ihr Vorsitzender Peter Schlobinski, sei einstimmig gewesen.

Wer’s glaubt, bleibt unselig. Die Entscheidung mag einstimmig gewesen sein, doch das verschlimmert die Dinge nur. Denn das Wort „postfaktisch“ ist keineswegs ein Produkt spontanen populären Vielgebrauchs, sondern es stammt eindeutig aus der Kiste der Politischen Korrektheit. Es ist ein Unwort, künstlich unter die Leute gebracht von Vertretern herrschender politisch-medialer Netzwerke, die damit versuchen, ihre Gegner, die bösen „Populisten“, als Gefühlstrottel und Faktenleugner hinzustellen, die zu dämlich seien, eine unwiderlegliche Tatsache von einer bloßen Einbildung zu unterscheiden.


Zudem handelt es sich um ein Wort, das – besonders bei ehemaligen DDR-Bewohnern –  ungute Erinnerungen weckt und allein deshalb schon als Überzeugungswort gänzlich ungeeignet ist. Die Funktionäre des Ulbricht- beziehungsweise Honecker-Regimes ritten nämlich in ihren Propagandareden unermüdlich auf der „Faktizität“ ihrer Argumente herum; besonders Ulbricht ließ sich kaum einen rhetorischen Auftritt entgehen, ohne ihn mit der Phrase „Das ist der Fakt!“ zu würzen. Dazu erhobener Zeigefinger und ein heulender Ton in der Stimme. Es war ein Horror für alle Zuhörer.

Der junge Pankraz mußte bei solchen Anlässen an den Klassiker Gotthold Ephraim Lessing denken, der im Jahre 1778 mit seinem Büchlein „Über das Wörtlein Tatsache“ für Aufsehen gesorgt hatte. Damals tobten hierzulande, wie auch in Frankreich und England, unter den Theologen erbitterte Streitigkeiten um die Authentizität, die „Faktizität“, gewisser in der Bibel geschilderter Vorkommnisse, und Lessing meldete sich und verwies die Streitenden, leicht amüsiert, auf die Unsicherheit, die dem Begriff des Faktums, der Tatsache selbst, zukomme. In Sachen Religion dürfe man allenfalls vom „Wörtlein“ Tatsache sprechen.

Genauso wie bei den damaligen theologischen Auseinandersetzungen verhält es sich heute in der Politik. Die dort herrschenden Netzwerker sehen ihre Verabredungen und Maßnahmen rapide den Bach hinuntergehen, das von ihnen regierte Volk vertraut ihnen nicht mehr und sehnt sich unüberhörbar nach Generalremedur. Um dem entgegenzuwirken, behaupten sie nun wie seinerzeit SED-Ulbricht, ihre Politik beruhe auf harten, ja allerhärtesten Fakten und auf nichts anderem, sie sei „alternativlos“, von geradezu physikalisch-kosmologischer Konsistenz, und nur die schlimmsten Trottel könnten etwas dagegen haben.

Aber wie ihre Rede vom „postfaktischen“ Zeitalter zeigt, glauben die Politikvögte in Berlin und anderswo selber nicht mehr an die von ihnen vorgeführte Wucht und Alternativlosigkeit. Sie fühlen sich – übrigens nicht zu Unrecht – allesamt schon als historische Figuren, als Repräsentanten eines Zeitalters der Faktizität, das nun also abgelaufen ist und durch ein postfaktisches Zeitalter ersetzt wird, in dem nicht Tatsachen, Fakten eine Rolle spielen, sondern nur noch die momentanen Wut- und Ohmachtsgefühle, Illusionen und Lügengespinste einer Meute von angeblich „unaufgeklärten“ Populisten.


Es kommt heraus: Das sogenannte Wort des Jahres 2016 verdankt sich nicht nur schnöder politischer Manipulation, sondern es ist auch stümperhaft ausgedacht und hat nicht die geringste Chance, je im tagtäglichen Wortgebrauch Fuß zu fassen. Denn jeder Sprachteilnehmer, ob Netzwerker oder Populist, spürt spontan: Es gibt gar kein „faktisches“ Zeitalter, weder prä- noch post-, noch sonstwie. Jedes Zeitalter ist, um Leopold von Ranke zu paraphrasieren, „gleichnah zu Gott“. Will sagen: jedes menschliche Leben sieht sich einer Wand von Faktizität gegenüber, mit der es zurechtkommen muß, so oder so, auf verschiedenste Weise.

Niemand weiß wirklich, was ein Fakt ist und was eine „bloße“ Einbildung oder Vorstellung, was „objektiv“ und was „subjektiv“ ist. Der jahrtausendealte theologisch-philosophische Diskurs hat bis heute keine Einigung darüber gefunden, trotz machtvoller Stellungnahmen etwa von Platon, Kant, Heidegger. Leibniz bemühte sich sein Leben lang darum, die Fakten (vérités de fait) mit den Ideen (vérités de raison) in Übereinstimmung zu bringen – vergeblich. Nur Gott könne das, sah er am Ende ein. Für uns Menschen blieb die Einsicht, daß Fakten nur „erfahren“, nicht wirklich durchschaut werden könnten.

Lessing hatte recht: Angesichts des Geheimnisses, von dem das Phänomen der Faktizität, des factum brutum, umhüllt ist, erweist sich das an sich zuständige stolze Wort „Tatsache“ als vollkommen unzureichend, kann guten Gewissens nur ironisch als Wörtlein ins Spiel gebracht werden. Das gilt natürlich besonders für die Politik. Wenn deren Gefasel vom postfaktischen Zeitalter, das jetzt angebrochen sei, überhaupt etwas einbringt, dann höchstens als nützliche Erinnerung an die Unsinnigkeit eines solchen Unternehmens.