© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Die Bedürftigen beglücken
Höhere Offenbarung: Klassische Musik muß wieder exklusiv, elitär, geheimnisvoll und heilig werden
Michael Klonovsky

Jeden Tag hüllt sich dieser Planet in Musik. Ein Teil des tönenden Fluidums, welches ihn umgibt, die sogenannte klassische Musik, verliert zunehmend an Bedeutung, auch wenn ihr „Markt“ womöglich noch im Wachsen begriffen ist. 2014 veröffentlichte die Körber-Stiftung eine Forsa-Umfrage, der zufolge 88 Prozent der Deutschen klassische Musik für ein wichtiges kulturelles Erbe halten. Aber nur jeder fünfte hatte im Jahr zuvor ein klassisches Konzert besucht – von den unter 30jährigen sogar nur jeder zehnte. Moderne Konzerthäuser müßten „Ideen entwickeln, wie sie mehr Interesse wecken können“, kommentierte ein Leitender der Körber-Stiftung. „Es wird für den Musikbetrieb in Zukunft verstärkt darauf ankommen, wie die Inhalte aufbereitet und präsentiert werden.“ Man muß also „Interesse wecken“, indem man den Inhalt des Tristan oder der h-Moll-Messe „aufbereitet“. Das erinnert an rot-grüne Bildungspolitik. Die klassische Musik soll sich aufstrapsen und mit den anderen massenkulturellen Phänomen in Konkurrenz treten – wie würdelos. 

Wir stehen vor einem Paradox: Nie zuvor gab es so viele auf solch hohem Niveau musizierende Orchester und Solisten, nie war die Qualität des „Angebotes“ besser, und doch verfällt die „Ware“ und mit ihr sterben allmählich die „Konsumenten“ aus. In den hier gewählten ökonomischen Begriffen liegt ein Teil der Erklärung. Das Musizieren hat sich nahezu komplett in die Hände von Profis verlagert. Die Trennung der Sphären in Musiker und Publikum ist zugleich Ursache und Folge des herrschenden musikalischen Analphabetentums. Noch vor hundert Jahren spielte jeder deutsche Kulturmensch ein Instrument und konnte Noten lesen (heute werden sogar die meisten Opern von Leuten inszeniert, die vor einer Partitur stehen wie der Ochse vor der Logarithmentafel). Man musizierte gemeinsam daheim und besuchte an besonderen Tagen das Salonkonzert oder das Opernhaus. Die Musik war Bestandteil des täglichen Lebens wie der Kirchgang.

Industrie verdient mit Zerstörungen Geld

Das ist sie heute noch weit mehr, allerdings handelt sich erstens fast ausschließlich um Tonkonserven und zweitens meist um eine sehr primitive Form von Musik. Mit jener hochkomplexen, kontemplativen, bis in die tiefsten Herzens- und Seelenwinkel des Menschen reichenden, den Hörer in spirituelle Sphären erhebenden und entrückenden klassischen Tonkunst hat sie wenig zu tun. Musik sei „höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“, sprach Beethoven; er ahnte nicht, was junge Leute dereinst über Ohrstecker hören würden.

Anstatt sich vom Musikkonsumententum rein zu halten, hat sich die Klassik davon infizieren lassen. Werke, die geschaffen wurden, um als Ganzes zu wirken, laufen überall als Fragmente, beginnend bei Adagio-Kompilationen für die CD oder bei „Klassik-Radio“ und nicht endend bei der Chopin-Mazurka in der Warteschleife oder Mozarts Requiem als Begleitmusik zur Rasiergelwerbung. Dahinter steht meist nur Gedankenlosigkeit, mitunter aber auch eine Mentalität, die sich von jener der IS-Terroristen dadurch unterscheidet, daß sie mit ihren Zerstörungen nicht dienen, sondern verdienen will.

Ein ähnlich kunstfeindliches Milieu ist das sogenannte Regietheater, das als ein gewaltiger Parasit nahezu sämtliche Opernhäuser der westlichen Welt umklammert hält. Hier ist die „Dekonstruktion“ bedeutender Werke ein ideologisches Programm, das einigen Witzbolden und Verrückten seit Jahrzehnten zu erheblichen Einnahmen verhilft. Optimisten werden sagen, daß trotz der Verheerungen die Oper ja immer ganz kregel sei. Nur, wenn Menschen unbeirrt in eine Kirche strömen, obwohl jemand den Altar täglich aufs neue mit Kot beschmiert, verbinden sich Gottesdienst und Kotgestank irgendwann zu einer Einheit.

Und nun naht eine Generation, die mit Smartphone, Facebook und Twitter sozialisiert wurde. Wer kennt nicht dies merkwürdige Bedürfnis, auf dem Mobiltelefon zu schauen, ob eine neue Nachricht angekommen ist, das einen mitten im Andante moderato heimsucht? Diejenigen, die heute über Akkordspannungen nachdenken, besitzen noch keine Vorstellung, welche Welle aus aufmerksamkeitsspannenverkürzter Ignoranz über den Planeten rollen wird. Zu schweigen von jenen Neubürgern, die an der abendländischen Musik wenig Interesse zeigen, weil sie sie für unrein – „haram“ – halten.

Klassik-Anbieter wollen Schranken abräumen

Die Idee, man müsse ein musikalisches Werk auch in seiner Struktur verstehen, ist ohnehin passé. Richard Strauss’ ätzende Bemerkung, das „kunstsinnige Publikum“, welches die Konzertsäle und Opernhäuser besuche, sei vergleichbar mit einem „zehnjährigen Kind, dem man Wallenstein in chinesischer Sprache vorführt“, wird täglich wahrer. Es hat nicht den Anschein, als werde der Verlust der musikalischen Bildung kollektiv vermißt. Immerhin sind die sogenannten ernsten Veranstaltungen, wo sich die Reste des abendländischen Kulturpublikums tummeln, noch vergleichsweise gut besucht, allerdings driften sie immer mehr ins Zirzensische ab, und in der Oper werden die Texte über der Bühne eingeblendet, damit man nicht zu sehr auf die Musik achten muß.

„Ich träume von einer Welt, in der jeder Mensch die Chance hat, Zugang zur klassischen Musik zu finden“, schreibt der Dirigent Kent Nagano. Nun, jeder mag träumen, wovon er will, aber niemand sollte das Recht haben, aus einem Tempel einen Supermarkt oder ein Bordell zu machen. Das tun freilich all diejenigen, die vorgeben, die Klassik zu „popularisieren“, die den Zugang möglichst barrierefrei gestalten wollen für die erwachsenen Dreijährigen, die einen Satz Wallensteins auf chinesisch mit Orchesterbegleitung vorgetanzt bekommen sollen. Heute versuchen alle Klassik-Anbieter, die Zugangsschranken völlig abzuräumen. Bei jeder Preisverleihung hört man von irgendeinem wohlmeinenden Redner die Forderung, man müsse die klassische Musik den einfachen und vor allem den jungen Menschen nahebringen.

Besser wäre es, die Klassik zöge sich vom Markt zurück. Diese Musik gehört zum Bedeutendsten, was Menschen je geschaffen haben, sie muß sich nicht auf ein Hauen und Stechen mit dem zeitgenössischen massenkulturellen Tinnef einlassen, sie wird leben, solange es Menschen gibt, aber sie wird nie eine Sache für jedermann sein. Man soll im Gegenteil das Publikum reduzieren, den Zugang beschränken und verkomplizieren, und zugleich die Ausbildung künftiger schlechtestbezahlter Profimusiker stark limitieren. Es würde der Klassik guttun, wenn sie wieder exklusiv, elitär, geheimnisvoll würde – so wie es dem Christentum guttäte, wenn die Heilandsgeburt wieder in Andachtswinkeln und Katakomben zelebriert würde statt als ein Fest des Gänsebratens, der Geschenktürme und des Kaufhausflitters. 

Die klassische Musik darf keine Hure für jedermann sein wollen. Sie muß sich wieder in eine geheimnisvolle schöne Orakelspenderin und Beglückerin zurückverwandeln. Sie muß sich entpopularisieren, entgiften, den existentiell Bedürftigen vorbehalten bleiben, wieder ernst, wieder „heilig“ werden. Solange irgendwo auf dieser Welt ein Mensch in seinem Zimmer am Klavier sitzt und Bach spielt, ist sie am Leben.