© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Offen für den Großen Austausch
Der Erlanger Emeritus Walter Leisner über den Zusammenhang von Grundgesetz und Nation: Verfassungsrechtlich spricht nichts gegen eine „Immigrationsordnung“
Wolfgang Müller

Weder Sigmar Gabriel noch Angela Merkel dürften sich je das Joch auferlegt haben, einen Text Hegels zu lesen. Dennoch gehorcht beider Lieblingsfloskel von den „Menschen, die schon länger hier wohnen“, mit der sie den Souverän des Grundgesetzes, das deutsche Volk bezeichnen, intuitiv einer vielzitierten Einsicht des preußischen Staatsphilosophen: „Ist das Reich der Vorstellung revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand.“

Die das deutsche Volk eliminierende politische Semantik der Herrschenden nimmt hier das Ziel eines Prozesses vorweg, dessen Determinanten Thilo Sarrazin in „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 präzise beschrieben hat und der auf ein Konglomerat von „Menschen“ zuläuft, die auf einem Territorium existieren, das vormals Deutschland hieß. Um dieses Ziel, ein „vielfältiges Einwanderungsland“, schneller zu erreichen, unterbreitete die ethnische Türkin Aydan Özuguz (SPD), für „Integration“ zuständige Staatsministerin im Kabinett Merkel-Gabriel, auf dem jüngsten „Integrationsgipfel“ im Kanzleramt ein „Impulspapier“, das Kommentatoren wie Vera Lengsfeld und Roger Letsch so unumwunden wie korrekt als Instruktion zur „Zerschlagung der alten Bundesrepublik“ einstuften. 

Im weltweiten Verfassungsvergleich ein Novum, sei, so bündelt Özuguz die Forderungen der Migrationslobby, dem Grundgesetz (GG) ein Artikel 20b einzufügen, der den Umbau zur „Vielfältigkeit“ als Staatsziel fixiert. „Migrant*innenorganisationen“ hätten dabei die administrative Transformation durch „positive Diskriminierung“, also durch Quotenregelung und anderweitige Privilegierungen der auf „Teilhabe“ pochenden Fremden, zu kontrollieren. Da die zur Disposition gestellte Mehrheitsgesellschaft diesen Repressionsapparat per „Diversity Budgeting“ zu finanzieren hat, bezahlt sie auch noch ihre zum Staatsziel erklärte Beseitigung.

Im Grundgesetz kommt „Nation“ nicht mehr vor 

Müßte die Ungeheuerlichkeit einer solchen Staatsstreichplanung nicht den Ruf nach dem Verfassungsschutz provozieren? Immerhin behauptete doch in der Debatte über deutsche Identität, 2015 angestoßen durch die afrikanisch-orientalische Masseninvasion, eine stattliche Zahl aufgeschreckter staatsrechtlicher Autoritäten, daß die Änderung der Zusammensetzung des deutschen Staatsvolks schlicht grundgesetzwidrig sei. Zuletzt trat Hans-Jürgen Papier, bis 2009 Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), mit Vehemenz gegen die „Verächtlichmachung“ des Nationalstaats auf, weil es keine funktionstüchtige Alternative zu diesem Verfassungsmodell gebe, das allein garantiere, die Belange des Gemeinwohls durch „parlamentarische Repräsentation des Volkes“ zu regeln (FAZ vom 17. Oktober 2016). 

Wie der emeritierte Erlanger Staatsrechtler Walter Leisner, Jahrgang 1929, gewiß kein Freund der Multikulti-Utopien von Frau Özuguz, jetzt in einer Studie über „‘Nation’ und Verfassungsrecht. Das ‘integrierte Volk’ als demokratischer Souverän in der Migration“ (Der Staat, 2/2016) repliziert, steht das Grundgesetz einer mit Artikel 20b GG etablierten „Immigrationsordnung“ aber keineswegs so unüberwindlich entgegen wie einige seiner Kollegen glauben machen wollen. Vor allem enthielten die „Ewigkeitsklauseln“, die nach Artikel 79 III in Verbindung mit Artikel 1 und Artikel 20 GG die Rechts- und Sozialstaatlichkeit, das Demokratiegebot, die Föderalstaatlichkeit und einen Mindestschutz für die Menschenwürde der „Änderungsgewalt des Volkswillens“ entziehen, keine „Staatsidentitätsschranken“. Es gebe für Identität auch keinen juristischen Anknüpfungspunkt, denn der Begriff Nation komme im GG-Text gar nicht mehr vor. „National“ bedeute in der heutigen staatsrechtlichen Dogmatik daher nur noch „gesamtstaatlich“ im Sinne einer Abgrenzung von der Staatlichkeit der Bundesländer. Der klägliche Rest, Nationalhymne, Feiertag, Flagge, ist Folklore. 

Ob es „natürliche Elemente“ der Identität eines „Volkes als Nation“ gebe – etwa Abstammungsgemeinschaft, Sprache als natürliche Grundlage der Volkseinheit, gemeinsame Kultur und Geschichte –, sei zumindest fraglich. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre sei dieser Problematik bis heute indes ausgewichen. Ebensowenig gab es darüber jemals eine ernstzunehmende öffentliche Debatte, jenseits feuilletonistischer Ratespiele („Was ist deutsch?“) oder hilfloser Proklamationen von „Leitkultur“. Verfassungsrechtlich sei die nationale Identität jedenfalls irrelevant und bilde daher kein Hindernis für das im GG-Rahmen zu schaffende „vielfältige Einwanderungsland“. „Keine noch so umstürzende Immigration“ finde am Topos Nation eine Grenze, die den Marsch in den Vielvölkerstaat aufhalten würde. 

„Daß die gegenwärtige Volks-Mehrheit im staatsrechtlichen Verständnis in einer Zukunft Hautfarbe, Sprache, Religion ändert, ist nach geltendem Verfassungsrecht des Grundgesetzes nicht ausgeschlossen. Nach diesem kann eine auch tiefgreifende, ja totale Veränderung allenfalls hinsichtlich der Sprache eingeschränkt oder gar verhindert werden.“ Rechtlich entscheidend sei darum nur, was der demokratisch gebildete Volkswille aktiv will oder passiv duldet. Nur das Volk gestalte das Gemeinwesen. Wenn dieses Volk beschließt oder es toleriert, durch „Totalmischung“ ein anderes Volk zu werden, könne man nur antworten: „Sein Wille geschehe!“ 

Kein Instrument für eine andere Migrationspolitik

Die einen möge dieses Fazit erfreuen, die anderen beunruhigen. Aber, diesen Schluß legt Leisners in den Mantel kühl-unparteilicher Sachlichkeit gehüllter Befund zur Anatomie der Verfassung wohl nahe, das Grundgesetz taugt nicht als Instrument für eine Kehrtwende in der Migrationspolitik. Was dies für die Zukunft einer Verfassung bedeutet, die nach einem berühmten Wort Ernst-Wolfgang Böckenfördes, eines anderen ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, ohnehin nicht die ethnischen, kulturellen, historischen und mentalen Voraussetzungen garantieren könne, auf denen sie beruhe, erörtert der jugendfrisch unablässig publizierende Walter Leisner hoffentlich in seinem nächsten Aufsatz.