© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Neue Streiter gesucht – neue Inhalte gefunden
Volkssolidarität: Schwieriger Spagat zwischen gestern und heute
Verena Inauen

Lachend blicken die vielen Frauengesichter von der wöchentlichen Kaffeerunde in die Kamera, geduldige Hände helfen betagten Rentnern beim Einkaufen und beherzt greifen junge Männer den bettlägerigen Menschen unter die Arme. 

Der Werbesport der Volkssolidarität zeigt Hilfe in den alltäglichsten Situationen und ein Miteinander auf allen Ebenen. Händeringend werden bei der „Volkssoli“ freiwillige Mitarbeiter aller Altersklassen und rege Nutzer der in die Jahre gekommenen Vereinsstrukturen gesucht. Weil diese immer weniger von Deutschen genutzt werden, sattelt der Verein auf die „neuen Mitbürger“ um.

Besonders in der Weihnachtszeit schenken der aus ehemaligen Parteimitgliedern der Linkspartei bestehende Vorstand und die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Vereins ihre Aufmerksamkeit den vielen Asylbewerbern. Gemeinsames Backen, Musizieren und Stricken.

Von der SED zum Volkssoli-Präsidenten

Voller Enthusiasmus stellen zu Beginn der Adventszeit auch in Dresden rüstige Senioren und junge Asylbewerber etliche Tische auf. Kekse werden in den rund 30 Weihnachtsmarktständen von arabischen Frauen und älteren Damen drapiert, Bastelsachen bereitgestellt und Kinderschminke angerührt. In Berlin-Marzahn überreichte die Vizepräsidentin des Bundestages, Petra Pau, der Volkssolidarität lächelnd einen Scheck über 300 Euro. Mit den besten Grüßen der Bundestagsfraktion Die Linke für die „multikulturelle Weihnachtsfeier“ im Stadtteilzentrum. 

Weiter entfernt war vom multikulturellen Aufbruch wenig zu spüren. Kinderstimmen füllten im thüringischen Frankenthal den Gemeindesaal. Kirchen- und Weihnachtsstrophen gab der Chor der Kindertagesstätte zum besten. Geleitet wird er von der Volkssolidarität. So wie auch die Musikstunden mit den irakischen, syrischen und afghanischen Flüchtlingskindern in Dresden-Pieschen. Der Verein eint die vielen Mitarbeiter, ehrenamtlichen Helfer und Unterstützer in den mitteldeutschen Bundesländern unter dem Motto „Miteinander-Füreinander – Solidarität leben“ schon seit 1945. 

Zu tun hat auch deren Präsident Wolfram Friedersdorff das ganze Jahr über genug. Vorträge über die Gleichstellung älterer Menschen am Arbeitsmarkt oder die Armutsfalle, die vielen Rentnern droht. Und über die fehlende Unterstützung für Flüchtlinge. Diesem Thema widmete er sich auch am 5. Dezember, dem Internationalen Tag des Ehrenamtes, ausführlich. Das Engagement der vielen freiwilligen Aktiven sei in der Zuwanderungsfrage „besonders deutlich“ geworden, bedankte sich der Vereinspräsident bei den rund 22.500 ehrenamtlichen Spendern, Helfern und Mitwirkenden der Volkssolidarität.

Vor Jahrzehnten war Friedersdorff noch Mitglied in der SED. Nach der Wende trat er der Linkspartei bei. Dabei bekleidete er die verschiedensten Ämter und Funktionen im Namen seiner Partei. Zuerst als Stadtrat für Wirtschaft und Finanzen in Berlin-Lichtenberg, dann als Bezirksbürgermeister. Später wechselte der fünffache Vater als Staatssekretär in das Sozialministerium von Mecklenburg-Vorpommern. Zuletzt übernahm er 2008 für wenige Monate den Posten als geschäftsführender Oberbürgermeister von Schwerin. Bis ihm sein ehemaliger Parteikollege aus SED-Zeiten Gunnar Winkler das Amt des Präsidenten in der Volkssolidarität weitergab. Der von 2002 bis 2014 agierende Präsident in der Wohlfahrtsorganisation war während seiner Zeit bei der Volkssolidarität auch Direktor des 1978 gegründeten Instituts für Soziologie und Sozialpolitik (ISS). Das ehemalige DDR-Ministerium für Staatssicherheit nannte ihn 1985 bereits einen „konsequent parteilichen Wissenschaftler“. 

Der Verband selber bezeichnet sich in seinen Statuten zwar als ein „gemeinnütziger, parteipolitisch und konfessionell unabhängiger, selbständiger Verein“.  Heute steht Friedersdorff den 180.000 Mitgliedern allerdings mit einem weiteren parteipolitisch prominenten Gesicht vor. Seine Kollegin bei den Linken, Heidi Knake-Werner sitzt dem Chef als Vizepräsidentin auch im Bundesvorstand zur Linken. Vorwiegend beschäftigen sie sich mit der Rentenpolitik und der im Stich gelassenen älteren Generation. Seit der Flüchtlingskrise im Vorjahr aber auch mit den vielen neuen Einwohnern und deren Wohlergehen. Nicht nur im Osten, wie in Presseaussendungen betont wird. 

Wer sich mit der Volkssolidarität auseinandersetzen will, muß sich aber auch mit der DDR auseinandersetzen. Gegründet wurde sie immerhin durch einen Aufruf der sogenannten „Antifaschistisch-Demokratischen Parteien“ unter dem Motto „Volkssolidarität gegen Winternot!“. Vereint waren in diesem Bündnis KPD, SPD, LDPD (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands),  CDUD (Christlich-Demokratische Union Deutschlands), FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) und die Landeskirchen in der Sowjetisch Besetzten Zone. 

„Nie wieder Faschismus“ – der Gedanke lebt weiter  

Bereits am 17. Oktober 1945 ins Leben gerufen, wuchs die Vereinigung im Kampf gegen Krieg und als Ausdruck der Solidarität schnell zu einem regelrechten Massenphänomen an. Zwischen 1970 und 1989 gehörten der Organisation rund zwei Millionen Mitglieder an. Der Zuwachs trug gleichzeitig dazu bei, „daß ein großer Anteil der Bürger in das politische System eingebunden war und es bis 1989 – gewollt oder ungewollt – weitgehend mittrug“, schrieb der heutige Ehrenpräsident Gunnar Winkler 2015 zur „Geschichte der Volkssolidarität“. 

Dei vielen „freiwilligen Mitglieder“ übernahmen ursprünglich die Betreuung von pflegebedürftigen Menschen. In der Rentnerbrigade, einem Zusammenschluß für ältere Menschen in der Nachbarschaft, und den zahlreciehn Kulturklubs sollte die Freundschaft zur Sowjetunion und die Ablehnung des „imperialistischen Westens“ geschärft werden. Die Rentnerbrigade löste sich nach dem Mauerfall auf, die Distanz zum Westen aber blieb.

„Nicht nur in der wirtschaftlichen Entwicklung“ sei der Abstand zwischen Ost und West gravierend, sondern auch beim Arbeitseinkommen und den Renten ein deutlicher Unterschied zu spüren, sagte Friedersdorff zum Tag der Deutschen Einheit. „Die Enttäuschungen über nicht gehaltene Versprechen der Politik gehören zum Nährboden für Politikverdrossenheit und Fremdenfeindlichkeit. Diese ist aber keineswegs nur ein Problem Ostdeutschlands“, betonte er weiter. Doch vorwiegend auf dem Gebiet der ehemaligen DDR setzen sich heute rund 18.000 Freiwillige für die Belange der Senioren und zunehmend für die Zuwanderer ein.  Allein 2015, so die Bilanz, betreute die Volkssolidarität rund 1.800 Flüchtlinge in rund 20 Einrichtungen und versorgte mehr als 2.800 Flüchtlinge mit Essen. Sie betreibt derzeit zwei „Notunterkünfte für Geflüchtete“ in Berlin. „Wir wachsen dorthin, wo die Gemeinschaft uns braucht und machen etwas Gutes,“ erklärte André Lossin, Geschäftsführer der Volkssolidarität Berlin, im September 2015. „Als Betreiber einer Notunterkunft leisten wir selbstverständlich unseren Beitrag für eine soziale Willkommenskultur in dieser Stadt.“

„Flüchtlingsarbeit gehöre seit der Gründung der Volkssolidarität zu ihren „Kernaufgaben“ heißt es entsprechend in den Positionspapieren des  Verbandes. Entschlossen und geschloßen kämpfen darum sowohl Vorstand, als auch Mitglieder „gegen Rechts“.

 „Der wachsende Rechtsradikalismus, Fremdenhaß und Fanatismus stellen eine Bedrohung für den Frieden und unseres demokratischen Zusammenlebens dar“, warnte dessen ungeachtet die Bundesdelegiertenversammlung in einer gemeinsamen Stellungnahme erst im September 2016. 

Alle Mitglieder seien – im Sinn des Gründungsgedankens „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus!“ – angehalten, ihre Stimmte im „Kampf gegen Faschismus“ und „für Solidarität und Demokratie“ zu erheben. Hauptanliegen des Verbandes sei zwar die Betreuung von „sozial Benachteiligten, Familien, Rentnerinnen und Rentnern, chronisch Kranken und Menschen mit Behinderungen“. Die Themen „Alterssicherung/Renten, Gesundheit und Pflege“ stünden dabei im Vordergrund. Über zuwenig Mitgefühl mit „Geflüchteten“ beklagt sich der Vorstand aber regelmäßig gegenüber den Medien. 

Bei der Auszeichnung besonders verdienstvoller Mitglieder im Oktober in Berlin zeigte sich der Vorstand bestürzt über die „Spannungen in der Gesellschaft“. Angesprochen hatte Friedersdorff damit aber viel weniger die immer noch deutlichen Lohnunterschiede zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern als vielmehr die Zuwanderungsproblematik. „Wir wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten nie so direkt an unseren Gründungsauftrag erinnert wie gerade im vergangenen Jahr“, sagte er mit Blick auf die Migrationsbewegungen im Herbst 2015. 

„Die Zahl derer, die sich an die Gründung noch erinnern können, schwindet aber ständig“, heißt aus dem Sekretariat des Bundesverbandes. Wie viele weitere Verbände hat auch die Volkssolidarität mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen. Die Mitgliederzahlen fielen nach der Wiedervereinigung rapide ab. Einerseits waren vorher verpflichtete Mitglieder nicht mehr gezwungen, der Organisation anzugehören. Andererseits bot sich den Ehrenamtlichen eine breite Fülle an alternativen Hilfsorganisationen. Trotz Werbebotschaften auf Youtube bleibt der einst große Ansturm auch heutzutage aus. Die gesellschaftliche Überalterung trägt zum Rekrutieren neuer Helfer wenig bei.