© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Von Tugenden leiten lassen
Großes Welttheater: Apostel der Wertgemeinschaft bedrohen die Würde und Freiheit des Menschen
Eberhard Straub

Die Tugend hat längst ihr Prestige verloren. Von ihr ist nicht mehr die Rede. Sie wurde durch Korrektheit, Dialogfähigkeit und Kompetenz ersetzt. Wer kompetent ist, der verfügt über Ausstrahlung oder gar Charisma. Was soll da noch Tugend? Mit der Tugend verschwand aber auch das Laster. An dessen Stelle trat das gesetzwidrige Verhalten oder das ungeschickte Ausschöpfen von Gesetzeslücken.

Zur großen Tugend und zum großen Laster gehörten einst die gleichen Seelenkräfte wie Phantasie, Energie und Mut. Toll trieben es die alten Römer, die Fürsten der Renaissance oder enthemmte Bürger während der Französischen Revolution. Da gab es Verschwendung, geniale Frechheit, Betrug und sittliche Verkommenheit. Es handelte sich um eine nahezu prunkvolle Verworfenheit zuweilen mit Witz, Charme und Eleganz. Auch das Böse warb mit Pomp und Festlichkeiten, sonst wäre es nicht so verführerisch gewesen. Mozarts Don Giovanni, der nichtswürdige, wie er im Untertitel genannt wird, ist die betörende Verkörperung sämtlicher Todsünden. 

Das Laster besaß ein blendendes Format, um sich gegenüber der Tugend behaupten zu können. Denn die siegreiche Tugend ermunterte in zahllosen Schauspielen jeden noch Strauchelnden auf dem unbequemen Weg zu ihr, nicht nachzulassen im Eifer, trotz aller verheißungsvollen Versprechen des Lasters. Zum Laster wie zur Tugend gehörten auf dem großen Welttheater Leidenschaften, ein leidenschaftlicher Wille und mit ihm eine Großartigkeit des Entschlusses. Doch vor Leidenschaften wird mittlerweile dringend gewarnt, weil sie überhaupt nicht cool sind und alles Großartige sich in albernen Übertreibungen erschöpft. 

Unsere allerneueste Neuzeit kommt sich sämtlichen vormodernen, unaufgeklärten und in provinziellen Sonderformen  darbenden Epochen weit überlegen vor. Immerhin unterscheidet sie sich von allen vergangen Zeiten, weil Tugenden und Laster in ihr keine Rolle mehr spielen. Nichts beschäftigte Griechen, Römer und Christen so sehr wie die Sorge um ein gelungenes Leben. Pflichten und Tugenden erteilten Rat und gaben Halt im Drama des Lebens. Deswegen wurden während zweieinhalb Jahrtausenden unermüdlich immer neue Handorakel verfaßt, die den Unsicheren vor Fehltritten bewahren sollten. Die Tugenden und die Laster wirkten nur über dramatische Personen als Kräfte im Drama des Lebens im großen Welttheater. Das Leben als Schauspiel – vor den urteilenden Göttern oder vor Gott, dem Spielmeister – entwickelt sich über Handlungen jedes Mitspielers, der sich ständig zwischen  Mächten entscheiden muß, die nur gelebt werden können, den Tugenden und den Lastern. Sie hängen unmittelbar mit seiner Lebendigkeit zusammen. 

Der wahre Mensch lebt nicht gefährlich, wie bürgerliche Ästheten um 1900 verkündeten. Der Mensch nicht als Abstraktion, sondern als konkrete Person lebt vielmehr ungemein dramatisch. Denn die Suche nach innerer Freiheit, das Ziel eines gelungenen Lebens, kann ihn, den Irrtumsanfälligen, in mancherlei Verstrickungen bringen. Sein Lebensdrama ergibt sich aus Handlungen, die auf eigenem Urteil beruhen, oder auch nicht, da der Mensch über die Freiheit verfügt, auf Handlungen zu verzichten oder seiner eigenen Einsicht entgegen zu handeln. Es gäbe weder Komödien noch Tragödien, verhielten sich die Einzelnen anders.

Im christlichen Verständnis bleibt das Dilemma des Einzelnen allemal, sich gar nicht für das Gute, Wahre und Schöne, die mit Gott verbundene Dreieinigkeit, entscheiden zu können, für unmittelbar existentielle Kräfte, stünde ihm nicht die Wahl des Unwürdigen, der Lüge und des Häßlichen immer offen. Sonst wäre sein Tun kein Akt der Freiheit. Die Tugend ist aber ein Kompaß, der ihm auf diesem Narrenschiff der Welt voller Täuschung dabei hilft, den wahren Kurs zu halten. 

Dies Menschenbild und ein solches Freiheitsverständnis überfordern allerdings solche Zeitgenossen, die  vorzugsweise mit dem rechnen, „was sich rechnet“, also einigen Gewinn verspricht. Die Tugend ist unter solchen Voraussetzungen  wertlos, denn zuweilen läuft sie im armseligen Gewand herum und findet höchstens Spott unter den sogenannten Bürgern, die vernünftig und gut informiert keinen Flausen anhängen und Tagträumen nachjagen. Dabei gehörten zur Französischen Revolution, von der sich die modernen Demokratien gern ableiten, ein dröhnendes Pathos der republikanischen Tugend und eine überschäumende Leidenschaft bis hin zum Terror, um die Feinde der Demokratie einzuschüchtern Es gab einmal bürgerliche Tugenden, die sich im öffentlichen Leben über freie Mitbestimmung, gute Sitten, Ehrbarkeit, Selbstlosigkeit, großes Streben und große Leidenschaften für das allgemeine Wohl eindringlich bemerkbar machten. Liberale Bürger im 19. Jahrhundert begriffen sich nicht als egoistische Einzelgänger, immer nur mit sich selbst beschäftigt und bemüht um Glücksmaximierung, als Teile eines unbestimmten Publikums, wie heute das Volk genannt wird, sondern sie wollten das souveräne Volk repräsentieren und mitbestimmend reden und handeln. 

Noch war die Politik kein Monopol der Parteien. In der nachbürgerlichen Zeit und der Parteiendemokratie verflüchtigte sich mit den Tugenden das große Streben. Stattdessen gibt es  nur noch viele kleine Streber, die in Hinterzimmern taktieren und dabei an ihren Vorteil und höchstens an den der Partei denken.

Das ist unvermeidlich in Zeiten, in denen  niedrige Absichten wie Habgier und Gewinnsucht als wichtigste Antriebskräfte in der  Wettbewerbsgesellschaft gefeiert und gefordert werden. Beide sind die Voraussetzung für den Erfolg. Der Erfolg ist der Ruhm des kleinen Mannes, des Strebers, des Besserverdienenden, der den Bürger abgelöst hat.

Schon im Kindergarten heißt es nicht: Üb’ immer Treu und Redlichkeit. Dort werden vielmehr künftige Leistungsträger darin unterrichtet, wie sie am besten zu Virtuosen des Schädlichen werden können, nämlich im unerbittlichen Wettbewerb ihren Vorteil im Nachteil des Nächsten zu entdecken. Ein solches Vorhaben gilt nicht als gemein oder niederträchtig. Es wird als weltklug von Sinnstiftern und Orientierungshelfern allerseits empfohlen. Der Erfolg  heiligt die Mittel. Wer nicht erfolgreich ist, bestätigt ein auslaufendes Modell, lebensuntüchtig und unfähig zu sein, seine Ellbogen geschickt einzusetzen. 

Zu dieser Lebenshaltung paßt es, daß ununterbrochen von Werten geredet wird, welche die überholten, lebensuntauglichen Tugenden ersetzen sollen. Die Tugenden hingen für den Christen allerdings mit dem Wort Gottes, seiner Wahrheit und der Freiheit eines Christenmenschen zusammen, die seit dem Eintritt Christi in die Weltgeschichte dem verheißen ist, der sich von den Tugenden leiten läßt. Die Werte sollen jetzt das überzeitliche, lebendige Wort und die Wahrheit ersetzen. Sie sollen wie eine ewige Wahrheit geachtet und geglaubt werden, so etwas wie Stabilität und Dauer im ununterbrochenen Werden und Wandel suggerieren. Die Werte werden inbrünstig als Religionsersatz verkündigt und heiliggesprochen.

Doch sie herrschen nicht von sich aus. Sie werden als Abstraktionen geltend gemacht, und zwar von Interessenten, die mit ihren subjektiven Werten  die Werte anderer entwerten, entmachten und aus dem unablässigen Wettbewerb der Wertsetzer verdrängen wollen. Die Werte kamen als Ersatz für die Tugenden und die christlichen Gebote erst mit der kapitalistischen Marktwirtschaft auf, seit es den Mehrwert, den Marktwert, die Verwertung und Bewertung der Ideen und Produkte gab. Die Wertephilosophie und Ideologie gehört zur totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche in unserer Gegenwart. 

Sie hat indessen schon den Menschen voll erfaßt, der von den Werterfüllten wie ein höchster Wert eingeschätzt wird. Dennoch: Sachen haben ihren Wert, der Mensch hingegen besitzt Würde und Freiheit, die wertlos sind, weil allen Bewertungen entzogen. Wäre die Freiheit und Würde des Menschen ein Wert, dann könnten sie beliebig abgewertet, umgewertet oder entwertet werden. Es sind die Apostel der Wertverkündigung und einer den Staat und das Recht überwölbenden Wertegemeinschaft, die den Menschen in seiner Freiheit und Würde bedrohen. Im Namen ihrer Werte schwingen sie sich zum Vormund auf.

Eine Gemeinschaft der Wertegläubigen in Analogie zur Communio der Christen, ihrer kirchlichen Glaubensgemeinschaft, widerspricht als innerweltliche Kirche allen Erwartungen der europäischen Freiheitsbewegungen. Man soll die Kirche im Dorfe lassen, also den Glauben dort, wo er hingehört. Man soll aber nicht den Marktplatz zum heiligen Hain umdeuten, in dem Wertergriffene harmlos wandeln. Denn Werte sind nicht harmlos, weil sie Interessenten voraussetzen, die andere Werte entmachten, um ihren Werten zu Geltung und Herrschaft zu verhelfen, und sei es mit Bombern und Schlachtschiffen.