© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Auf die Welt einlassen, wie sie wirklich ist
Übergreifende Ordnung: Eine Erinnerung an den vor fünfzig Jahren verstorbenen österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer
Eberhard Straub

Die auf ihre Aufklärung so stolzen Zeitgenossen, die rundum informiert sicher waren zu wissen, „was Sache ist“, sind auf einmal beunruhigt von der allerneuesten Auskunft, mittlerweile in postfaktischen Zeiten zu leben, in denen Vermutungen, offenkundige Lügen und Wünschbarkeiten die Tatsachen verdrängen und den Raum der Wirklichkeit, in dem sie aufeinander stoßen, in erhebliche Unübersichtlichkeit bringen. Dabei ist die Sorge um den sich beschleunigenden Wirklichkeitsverlust während des Endes der Neuzeit und im Anbruch der  Postmoderne gar nicht überraschend und überhaupt nicht neu.

Die Romane des Schriftstellers Heimito von Doderer, vor fünfzig Jahren am 23. Dezember 1966 in Wien gestorben, handeln immer wieder davon, wie die meisten, genarrt von Ideologien, Einbildungen und Ängsten auf der Suche nach dem Lebenssinn der wirklichen Welt abhandenkommen und sich in einer zweiten Wirklichkeit, im Reich der Fiktionen, einrichten, ohne dort zu  Ruhe und Klarheit zu finden. Sie stehen unter dem Druck des Primats der Politik und dem Gefuchtel von Orientierungshelfern, die von der Gestaltung der Zukunft raunen, in der fern von den historischen Unzulänglichkeiten der Mensch endlich zu dem wird, was er sein soll, zum wahren Menschen und tätigen Mitmenschen. 

Dämonen der Ideologisierung entfesselt

Die Hoffnung auf ein gelungenes Leben in unkonkreten Räumen und Zeiten kommender Generationen sowie die Übermacht sozialer Abstraktionen trübt den Blick der Politiker, der Sinnstifter und der von ihnen Verunsicherten  für die vorhandene, die anschauliche Wirklichkeit, die weil höchst mangelhaft, von ihnen überholt und überwunden werden muß. Heimito von Doderer witterte in solchen Absichten, den unvollkommenen Menschen in einer unvollkommenen Welt zur Vollkommenheit zu zwingen, einen totalitären Anschlag auf die Würde und Freiheit des Menschen. Gymnasiasten in Wien empfahl er daher 1959: „Trachtet nicht zu erfahren, wie die Welt sein sollte, sondern nur, wie sie wirklich ist.“ Denn das schreckliche Pathos des Sein-Sollens, sich vollends der Vorstellung einer schöneren Zukunft auszuliefern und die wirkliche Welt an ihr zu messen, macht es den Dämonen, den totalitären Kräften leicht, sich der Wirklichkeit zu bemächtigen und der an ihr irre gewordenen Geister oder Geistlosen. 

Doderer erkannte in der Entwirklichung der Welt ein eminent modernes Phänomen, da mit der Französischen Revolution die Dämonen der Ideologisierung entfesselt wurden und mit ihnen der Primat des Politischen, das indessen zu einer Heilskategorie angeschwollen war. Seitdem suchten die Schwachen und Hilflosen in begrifflichen Sammellagern, wo Werte ausgeteilt werden, in der rassischen oder durch Klassenzugehörigkeit organisierten Volksgemeinschaft Schutz und Halt und danach in allen möglichen humanitären Konstruktionen künftiger Welterlösung von sämtlichen  Übeln. Politiker und Ideologen warnen davor, sich mit dem Unvollkommenen abzufinden. Sie nötigen jeden, sich in Programme und Leistungsbereitschaft zu flüchten, wortreich die Sinngebung des Sinnlosen verheißend und darüber das ohnehin schon beschleunigte Tempo auf das Nichts hin weiter steigernd. Die nichtige politische Romantik, um euphorisch Innovationen und Fortschritte durchzusetzen, erweiterte die Möglichkeiten, Gewalt anzuwenden auf bislang unvorstellbare Weise. Klassen, Völker, Wertegemeinschaften treten ihren Wutmarsch an, um aus ihrer Unzufriedenheit mit der Welt, wie sie ist, herauszufinden und sich in der Homogenisierung der Menschen, also  in der Gleichschaltung ihrer Lebensweisen, zu beruhigen. 

Der Kulturprotestant fand zum katholischen Realismus

Heimito von Doderer, 1896 als jüngster Sproß von sechs Geschwistern geboren, kam noch aus der Welt von gestern, zur „Dritten Gesellschaft“ in Wien gehörend, in der sich nobilitierte Unternehmer, Techniker, Beamten- und Militäradel sowie getaufte Juden mischten,  Besitz und Bildung repräsentierend. Die Welt von gestern versank in der Tiefe der Jahre mit dem Untergang Österreich-Ungarns und seiner Ordnung. Es kam zu keiner neuen Ordnung, sondern zu einer auswuchernden Unordnung unter der Leitung von „Dämonen“, wie Doderer später in seinem so genannten Roman schilderte. Der Soldat, seit 1916 in Sibirien kriegsgefangen, lernte die russische Revolution und den Bürgerkrieg gründlich kennen, auf abenteuerliche Weise kam er im August 1920 in das Wien der Inflation und der allgemeinen Ratlosigkeit zurück, ohne Beruf, verarmt, deklassiert, aber bemüht, Haltung und Eleganz zu wahren.

Der Student und nur wenigen bekannte Schriftsteller ließ sich von den aufdringlichen, lauten Dämonen einfangen und emigrierte 1933 ins „Reich“, bereit als Schriftsteller beim Aufbau eines neuen Deutschland und eines dazu gehörenden neuen Geistes mitzuarbeiten. Sehr bald wurde er enttäuscht durch die Macht der Tatsachen. Deren anschauliche Gewalt und deren unwiderlegliche Sprache ernüchterten ihn. Denn die Tatsachen reden ja und zwar in einer zu ihnen gehörenden Sprache, auf die Doderer horchte und die er sich zu eigen machte. 

Der zweiten Wirklichkeit entronnen, ließ er sich auf die Anschauung der Wirklichkeit ein, auf die Welt wie sie ist, und achtete genau auf die Sprachen, die im Reich der Fiktionen und Täuschungen gebraucht werden, um mit ihnen die Realität ihren Vorstellungen anzupassen. Der überwiegende Teil heutigen Sprechens hatte mit einer lebendigen Sprache nichts mehr zu tun. In den verwahrlosten, ungegenständlichen Redeweisen der ideologischen Parteien und Richtungen erkannte er den Ursprung der Katastrophen, eben die Welt und ihre Wirklichkeit vergewaltigen zu wollen, statt sich darum zu sorgen, Freundschaft mit ihr und mit dem Menschen zu schließen.

Der Kulturprotestant fand mit der Häutung vom Nationalsozialismus zur katholischen Kirche, die ihn, mittlerweile Offizier der Luftwaffe, 1940 in ihre Gemeinschaft aufnahm. Seine Konversion entsprang nicht einer Laune des leicht dandyhaften Ritters, der seinen Titel Ritter von Doderer als Aufforderung zu Ritterlichkeit verstand. Sie war konsequent, weil Christus das lebendige Wort ist, dessen Verkündigung Klarheit und Deutlichkeit erfordert, fähig dazu, die Größe Gottes ahnen und die Unbegreiflichkeit seines Ebenbildes, des Menschen, in seiner unerschöpflichen Fülle gelten zu lassen und nicht auf politische Zwecke einzuengen. 

Der Theologe, Philosoph, großartige Redner und sprachkundige Thomas von Aquin hielt zu genauer Beobachtung der Tatsachen und Gegenstände an, um jedem dazu zu verhelfen, sich in der Ordnung, die auf eine umfassende Ordnung Gottes hinweist, angemessen bewegen zu können, und nicht in Gefahr zu geraten, auf Täuschungen hereinzufallen. Der Realismus Doderers ist ein katholischer Realismus, gemäß der Weltzugewandtheit der Kirche, von der sie sich erst auf dem Zweiten Vaticanum (1962–1965)voller politischer Weltfrömmigkeit löste und sich stürmisch Illusionen innerweltlicher Heilserwartungen annäherte. 

Dieser Realismus der Kirche und Doderers bekundete sich in einer realistischen Sprache, in Genauigkeit und Verzicht auf jeden Jargon, eben weil der Christ zum Handeln aufgerufen ist unter dem Eindruck des wahren und lebendigen Wortes, das die Richtung weist zum guten Leben als Handelnder, wie es dem Menschen gemäß ist. Außerdem blieb Doderer Latein die einzig unverseuchte, von zeitgenössischer Willkür der Ideologen unverdorbene Sprache. 

Eigensinnige nicht zur Ordnung rufen

„Was immer euch einer als „Idealist“ erzählen möchte: achtet auf seine consecutio temporum. Ist sie unsauber – glaubt ihm kein Wort. ‘Ein Gedanke ist so viel wert als seine Sprache Wert darauf legt, eine zu sein’, sagt A.P. Gütersloh.“ Dies legte er den Gymnasiasten, den Lateinkundigen 1959 nahe. In diesem Sinne schrieb er nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1946 im abermals neuen Österreich. Er zweifelte nicht daran, daß in dieser neuen Welt neue Ideologien, Weltdeutungen und Programme den Menschen in seiner ureigenen Welt beunruhigen und auf Visionen verweisen werden, auf Weltverbesserungen, die ihn in weitere Irrungen und Katastrophen führen. In seiner Groteske von 1962 „Die Merowinger“ entwarf er ein drastisches Bild der neuen, schönen Welt als Narrenschiff, auf dem alle Wissenschaftsgläubigen, politischen Zauberkünstler, Techniker und Journalisten wie die Butter auf der heißen Kartoffel schwimmen. Seine Merowinger spielen in Franken, in der Bundesrepublik als dem Spiegel einer allerneuesten Moderne, die längst in den Zustand der Vergreisung eingetreten ist, wie die Alte Welt Roms in der spätantiken Merowingerzeit. 

Doderer verstand sich nie als Wiener Schriftsteller, auf den er gern von Germanisten reduziert wird. Wien war ihm eine Chiffre für das alte Österreich-Ungarn, für die Stadt, in der sich alle Völker und Sprachen der Monarchie austauschten, wo sich auch immer „Reichsdeutsche“ tummelten. Sie war ihm ein Symbol für eine Kultur und ein Reich, das keine Angst vor der Vielfalt hatte und jeden in seinen Lebensverhältnissen beließ, ohne nach deren Gleichheit von Linz bis nach Czernowitz zu streben.

Gerade deshalb ergab sich eine unübersehbare und unüberhörbare Übereinstimmung in den Grundvoraussetzungen, vor dem unbegreiflichen Leben nicht zu verzagen und darauf zu verzichten, allzu Eigensinnige eindringlich zur Ordnung zu rufen. Denn in einem stimmten die Kakanier, die k.u.k. Weltenbürger trotz vieler Uneinigkeiten überein, daß jedes Individuum unerschöpflich ist, jeder Einzelne mit allen anderen vergleichbar und deshalb alle Handlungen miteinander vergleichbar und dennoch unerschöpflich sind, wie die Handelnden. Alles Unvergleichliche liegt außerhalb der Geschichte und kann niemals in sie eingehen. Diese katholische Anerkennung der Verhältnismäßigkeit von allem, was ist, ohne dem fatalen, weil menschenfeindlichen Ehrgeiz, auf Erden sich dem Paradies annähern zu müssen, erlaubte eine durch Schlamperei gemilderte Ordnung, das lebenskluge Fortwurschteln, das aufgeklärten Systematikern abscheulich vorkommt. 

Ein gelungenes Leben führen bei Doderer vor allem Beamte, Offiziere, staatliche Angestellte unterschiedlichster Art, die sich in Ordnungen einleben, gerade weil diese keinen Absolutheitsanspruch vertreten und nicht den ganzen Menschen erfassen und gestalten wollen. Denn auch sie stehen als Bruchstücke in einem selbstverständlichen Verhältnis zur übergreifenden Ordnung Gottes und des Seins. Als ein Freund des Lebens und der Welt, de Geschöpfe Gottes, verstand sich Doderer als Konservativer, da es für ihn doch etwas unbedingt zu wahren und erhalten gab in diesen Zeiten voller Untergänge wegen illusionärer Romantizismen: nämlich die Gewißheit von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der sich darauf verlassen kann, daß Gott mit seiner Gnade ihn herausreißt aus allem, was ihn nötigt und zwingt. Insofern ist Doderer auch ein katholischer Schriftsteller, ein sehr diskreter allerdings, um nicht in politisch-theologisch hochgerüsteten Zeiten mißverstanden zu werden. 

Eva Menasse: Heimito von Doderer. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2016, gebunden, 88 Seiten, Abbildungen, 22 Euro