© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Darf’s ein bißchen mehr starker Staat sein?
Sicherheit: Nach dem Anschlag von Berlin wird über Konsequenzen debattiert
Peter Möller

Für die deutschen Sicherheitsbehörden markiert der Anschlag mit einem LKW auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche eine doppelte Niederlage. Am 19. Dezember war es Polizei und Geheimdiensten in Deutschland erstmals nicht gelungen, einen schweren islamistischen Terroranschlag mit zahlreichen Opfern zu verhindern. Doch damit nicht genug: Ganz offensichtlich verfügten die Behörden im Vorfeld über ausreichend Erkenntnisse, die die Gefährlichkeit des 24 Jahre alten Tunesiers Anis Amri belegten. Hätten die Verantwortlichen konsequent und entschlossen gehandelt, so der Vorwurf von Sicherheitsexperten, wären die zwölf Opfer der Terrorfahrt vermutlich noch am Leben. 

Insbesondere daß sich sogar das 2004 eingerichtete Gemeinsame Terrorabwehrzentrum, in dem alle Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten und ihre Informationen austauschen, mehrfach mit Amri befaßte, ohne Konsequenzen zu ziehen, sorgt für Kopfschütteln. Und als wollte der Attentäter die deutsche Polizei verhöhnen, tauchte er nach dem Anschlag auch noch mitten in der Hauptstadt unerkannt unter. Erst die Schüsse eines italienischen Polizisten bereiteten der spektakulären Flucht vier Tage später in Mailand ein Ende.  

Schon macht in Berlin das Wort vom Behördenversagen die Runde. Erste Politiker wie die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, bringen einen Untersuchungsausschuß des Bundestages ins Spiel. Ein solches Gremium könnte ähnlich wie im Fall der NSU-Mordserie versuchen, Pannen bei den Sicherheitsbehörden aufzuklären. Göring-Eckardt forderte die Bundesregierung am Montag auf, Fragen zu Versäumnissen der Sicherheitsbehörden umfassend und schlüssig zu beantworten. Ansonsten sei ein Untersuchungsausschuß „nicht ausgeschlossen“, sagte sie der Funke-Mediengruppe. Innenminister Thomas de Maizière sei „in der Bringschuld zu erklären, wie ein bekannter Gefährder abtauchen konnte“.

Der CDU-Politiker nahm die Sicherheitsbehörden erwartungsgemäß gegen alle Vorwürfe in Schutz. Diese machten „grundsätzlich sehr gute Arbeit“ und hätten schon einige Anschläge verhindert. Zugleich sagte de Maizière eine gründliche Prüfung möglicher Pannen im Fall Amri zu. Der gesamte Handlungsablauf werde eingehend daraufhin untersucht, „ob an irgendeiner Stelle Fehler passiert sind oder ob es an gesetzlichen Regelungen gefehlt hat“. Das betreffe nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern etwa auch die Ausländerbehörden und die Justiz. 

Hamburgs Innensenator  befürchtete Volksverhetzung

Dennoch scheint ein Untersuchungsausschuß derzeit eher unwahrscheinlich. Weder die Opposition aus Linkspartei und Grünen und schon gar nicht die Regierungsparteien dürften im nahenden Wahlkampf ein gesteigertes Interesse an einer öffentlichen Untersuchung der deutschen Terrorabwehr und damit indirekt auch der Folgen der von allen Bundestagsparteien grundsätzlich mitgetragenen Flüchtlingspolitik haben. Hinzu kommt, daß der Ausschuß nur bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode tagen dürfte. Mit Blick auf die Bundestagswahl im September blieben den Abgeordneten nur wenige Wochen zum Aktenstudium und zur Zeugenbefragung.

Aber de Maizière ist erfahren genug, um zu wissen, daß ihm als oberstem Chef der Sicherheitsbehörden des Bundes die derzeitige Diskussion dennoch schnell gefährlich werden könnte. Am Dienstag ging der Innenminister deshalb in die Offensive. In der FAZ sprach er sich dafür aus, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland zugunsten des Bundes massiv umzubauen. So sollten das Bundeskriminalamt gestärkt und die Kompetenzen der Bundespolizei deutlich ausgeweitet werden. Zugleich fordert er, die Landesämter für Verfassungsschutz aufzulösen und die Geheimdienste auf Bundesebene zu konzentrieren. Vor allem bei den Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber plädierte der Innenminister dafür, die Zuständigkeit des Bundes zu stärken und gegenüber den Ländern ein Durchgriffsrecht zu schaffen, um künftig Fälle wie den von Amri zu verhindern, der wegen fehlender Papiere aus der Abschiebehaft entlassen worden war.

Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer mahnte vor dem Hintergrund der Bundestagswahl schärfere Gesetze an. Der CSU-Chef bezeichnete die Sicherheitslage in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe als politisch gefährlich für die Union. Wahlen seien schon durch unwichtigere Dinge entschieden worden.  SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann ging dagegen auf Konfrontationskurs zur Union. Er nannte es in der Passauer Neuen Presse erschreckend, mit welcher Radikalität die CSU die Sicherheitspolitik auf den Kopf stellen wolle. Dabei reiche der rechtliche Rahmen für die meisten notwendigen Maßnahmen aus, sagte Oppermann. SPD-Chef Sigmar Gabriel äußerte sich dagegen zu einigen Forderungen aus der Union, wie etwa der Verschärfung des Abschieberechts, deutlich kompromißbereiter.

Neben den Diskussionen über ein Versagen der Sicherheitsbehörden und mögliche Gesetzesverschärfungen befeuerte der Anschlag erneut die Debatte über die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Denn Amri war im Sommer 2015 mit der Flüchtlingswelle aus Italien, wo er eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hatte, nach Deutschland gekommen. Dem späteren Attentäter kam dabei die völlige Aufgabe der Grenzkontrollen zugute. Da seine Identität bei der Einreise von den Behörden nicht festgestellt wurde, konnte er sich problemlos mehrere Scheinidentitäten zulegen. Es sind diese Details in der an Versäumnissen reichen Vorgeschichte des Anschlages, die Merkel im anstehenden Wahlkampf vielleicht am meisten fürchten muß.

Unterdessen fügte Hamburgs Justizsenator Till Steffen (Grüne) der Diskussion über ein mögliches Behördenversagen ein besonders bizarres Kapitel hinzu. Die Polizei der Hansestadt konnte erst mit zwölf Stunden Verspätung nach dem Berliner Attentäter auf ihrer Facebook-Seite fahnden. Steffen hatte aus Sorge vor volksverhetzenden Kommentaren seine notwendige Zustimmung für eine Veröffentlichung zunächst verweigert.