© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Die Loyalität ist aufgekündigt
Regierende und Regierte: Die Mehrheit des Volkes will gar nicht über seine Täuschung aufgeklärt werden
Thorsten Hinz

Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler bestätigt die Wahl Donald Trumps nur die Dummheit des Wahlvolks. In einem längeren Rundfunkinterview im November sagte er unter Hinweis auf Machiavelli, der Pöbel folge „sowieso immer nur dem Schein“. Man dürfe ihn jedoch nicht „verachten“, sondern „wir müssen deswegen eine kluge Politik machen, daß der Schein nicht gegen uns spielt, sondern für uns spielt. Letzten Endes ist das die Herausforderung für politische Eliten.“ Die Sätze waren auch auf Deutschland gemünzt. Den meisten etablierten Politikern, Journalisten und Experten hat Münkler aus dem Herzen gesprochen.

Kritiker haben ihm deswegen Arroganz vorgeworfen. Das ist nicht falsch, aber zu einfach. Im 18. Kapitel seines Klassikers „Der Fürst“ schreibt Machiavelli, dieser müsse, um seine Macht zu behaupten, heucheln und sich verstellen können, denn „die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr den Bedürfnissen des Augenblicks, daß der Betrüger immer solche findet, die sich betrügen lassen“. Eigenschaften wie „Milde, Treue, Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und Religiosität“ bräuchte er nicht besitzen, er müsse sie dem Publikum nur glaubhaft machen, denn „(jeder) sieht, wie du erscheinst, wenige fühlen, was du bist, und die wenigen wagen nicht, sich der Meinung der Menge zu widersetzen“. Das ist eine zeitlose Darstellung, die in Tocquevilles „Über die Demokratie“ oder Neil Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode“ fortgeschrieben wurde.

Das Verständnis Machiavellis von Macht ist keineswegs bar der Moral, im Gegenteil. Fürst und Volk erkennen die abstrakte Gültigkeit der Tugenden an, akzeptieren aber – der eine bewußt, die anderen unbewußt –, daß sie nur in guten Zeiten praktiziert werden können. In schlechten Zeiten setzen sie dem bösen Handeln wenigstens eine Grenze.

Die Fähigkeit, den Staat zu erhalten

Wie die Herrschaft des Fürsten geht auch die Demokratie von einer Fiktion aus, nämlich von den mündigen Staatsbürgern, die in der Lage sind, die politischen Argumente zu begreifen und abzuwägen und danach Entscheidungen zu treffen, die eine fähige Elite, eine Auswahl der Besten, hervorbringen. Wie zur Zeit von Machiavelli im 16. Jahrhundert will die Mehrheit gar nicht über ihre Täuschung aufgeklärt werden. Zu allen Zeiten ahnten „die da unten“, daß sich unter „denen da oben“ zahlreiche Gauner, Betrüger und Schaumschläger befinden. Doch solange sie dafür sorgten, daß die anderen ruhig schlafen und gut essen konnten, verlangte niemand von ihnen, wie Heilige zu leben.

Die Regierten sind folgsam und loyal, solange die Regierenden ihnen Schutz und Sicherheit gewähren, mögen sie sonst ruhig Windbeutel sein. Machiavelli bringt das auf die Formel: „Ein Fürst sei siegreich und erhalte den Staat“, denn der „Pöbel hält es mit dem Schein und dem Erfolg einer Tat“. Das ist der springende Punkt: Der fürstliche Schein muß sich mit dem nachprüfbaren Vorteil der Regierten verbinden. Für den Erfolg des Fürsten entscheidend aber ist seine Fähigkeit, den Staat zu erhalten.

Genau das erklärt, warum das auf eine Fiktion gebaute Einverständnis zwischen dem Pöbel und der sogenannten Elite in Deutschland gerade zerbricht. Wer unter einer „klugen Politik“ vor allem den Schein versteht, der vor dem Wahlvolk aufrechterhalten wird, würdigt das politische Handeln auf einen gelungenen Illusionstrick herab. Das ist in der Tat arrogant und zynisch und wird früher oder später als betrügerisch durchschaut.

An der Praxis messen lassen

Der Erfolg des Fürsten ist mehr als gute PR, er beruht auf praktischen Voraussetzungen. Anders ausgedrückt: Der erfolgreich gewahrte Schein ist der Widerschein einer Politik, die das Volk als gut und vorteilhaft erfährt. Am Ende müssen die politische Theorie und Rhetorik sich an der Praxis messen lassen.

Der Soziologe Michael Hartmann hat Münkler deshalb entgegengehalten: „Die Bevölkerung hat ein ganz gutes Gespür, wenn es um ihre eigene Lebenssituation geht. Man kann den Menschen zum Beispiel nicht immer wieder sagen, daß es Deutschland heute viel besser geht als je zuvor, wenn sie das anders erleben. Sie können selbst kontrollieren, ob vom gestiegenen Bruttoinlandsprodukt wirklich etwas im eigenen Portemonnaie ankommt.“

Bezug zur Realität geht verloren

Im 19. Kapitel hat Machiavelli die Grenze zwischen guter und schlechter Politik klar gezogen. Um erfolgreich zu agieren, muß der Fürst seine Besorgnis nach zwei Seiten, nach innen und nach außen richten. Wenn „die auswärtige Lage feststeht“, würden auch die inneren Angelegenheiten zur Ruhe kommen. Hingegen mache der Fürst sich verhaßt, „wenn er sich des Vermögens und der Frauen der Untertanen bemächtigt. Darauf muß er verzichten. Im allgemeinen sind die Menschen zufrieden, wenn man nicht ihre Ehre und ihr Vermögen angreift (...).“ 

Eben das hat der demokratische Fürst mit der Euro-Rettungspolitik und der Politik der offenen Grenzen getan. Er hat damit den lange, allzu lange gläubig hingenommenen Schein zerstört und die gegenseitige Loyalität aufgekündigt. Der Widerwille, der ihm nun entgegenschlägt, ist lediglich die Quittung dafür. Statt Machiavelli auch in dieser Hinsicht ernst zu nehmen, klagte Münkler jüngst in einer Veranstaltung in Stuttgart über ein verbreitetes „Bedürfnis nach Kleinräumigkeit“ und die nachlassende Bereitschaft, in „übergeordnete Ideen“ zu investieren. 

Nun kann man durchaus Vorstellungen von einem europäischen Großraum anhängen und trotzdem die Gemeinschaftswährung und den Massenzustrom von Moslems nach Europa falsch finden, weil sie sowohl die persönliche Lebensqualität einschränken als auch die Konstituierung eines handlungsfähigen europäischen Großraums sabotieren. Die Abkoppelung der fürstlichen Makro- von der Mikroebene des Pöbels führt nicht nur zum Vertrauensverlust; die „übergeordneten Ideen“ des Fürsten verlieren auch ihren Bezug zur Realität, verselbständigen sich und werden als Bedrohung wahrgenommen. Daran ist bereits der realexistierende Sozialismus gescheitert.

Zu einem politisch-medialen Komplex verschmolzen

Helmut Schelsky schrieb 1975 in dem Buch „Die Arbeit tun die anderen“, mit der Geburt der Soziologie im 19. Jahrhundert sei der „Plan“ zum „Privileg einer Wissenschaft (geworden), die zur Herrschaft drängte“. Sie habe dabei „das Erbe der Theologie (übernommen), die den Heilsplan Gottes auszulegen versuchte“. Ihre Analyse schlüge in Planung, der Dienst in Herrschaft um. Für die Planer sei nicht das „institutionelle Leben der organisierten Einheit selbst“ – also das Volk, der Staat, die konkrete Ordnung – der Bezugspunkt, sondern dieser liegt außerhalb, etwa in einer externen Institution oder einer Utopie. Von diesem archimedischen Punkt aus beplanten sie die Gesellschaft und arbeiteten an ihrer Ummodelung.

Schelsky sah den (linken) Intellektuellen noch im Konflikt mit Politik und Staat und sprach von der „‘Autonomie’ der Planer gegenüber der legitimen institutionellen Führung“. Heute sind Politiker, Journalisten, Experten, Stiftungen, Denkfabriken zu einem politisch-medialen Komplex verschmolzen. Gemeinsam versuchen sie, die Planung in die Gesetzgebung, in Politik und Propaganda zu überführen und als den „Willen des Volkes“ verbindlich zu machen. Allerdings verändern sie die Gesellschaften schneller, als sie die Veränderungen erfassen und beplanen können. Der mit der Euro- und Migrationskrise akut gewordene Kontrollverlust war also unvermeidlich.

Während Herfried und Marina Münkler in ihrem Buch „Die neuen Deutschen“ die bisher verschont gebliebenen Kleinstädte in Deutschland als effektive „Integrationsagenturen“ anpreisen, hat die von „übergeordneten Ideen“ geleitete und von Experten kommunizierte Migrationspolitik dafür gesorgt, daß Dritte-Welt-Migranten in den mittleren Städte bereits die Machtfrage stellen. Kürzlich berichteten verschiedene Medien darüber, daß Vertreter kurdisch-libanesischer Clans in Gelsenkirchen gegenüber der Polizei sinngemäß äußerten: „Die Polizei würde den Kampf mit uns nicht gewinnen, weil wir zu viele sind. Das würde auch für ganz Gelsenkirchen gelten, wenn wir wollten.“

Ist es dem Pöbel zu verdenken, wenn er die fürstliche Elite, die ihn in diese Lage gebracht hat, zum Teufel wünscht?