© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Legenden der Ahnen
Der Herr der Ringe: In seinem Fantasy-Klassiker verbindet der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien nordische Sagen und christlichen Glauben
Michael K. Hageböck

Der Herr der Ringe“ gilt als eines der bedeutendsten Prosawerke des 20. Jahrhunderts, er begründete das Genre der Fantasy-Literatur und spielte zusammen mit „Der Hobbit“ rund sechs Milliarden Dollar an den Kinokassen ein. Mag der vor 125 Jahren geborene John Ronald Reuel Tolkien zunächst durch seinen Ideenreichtum verblüffen, so führt die eingehendere Auseinandersetzung zu den Wurzeln abendländischer Tradition, denn eine wesentliche Leistung des Schriftstellers bestand darin, Schätze der Altvorderen neu zugänglich gemacht zu haben. Dabei stellt sich die Frage, in welcher Beziehung seine verwendeten Quellen zueinander stehen und ob sie eine kulturelle Einheit bilden. 

Wesentlich für das Verständnis von Tolkien ist das Verhältnis von heidnischer Überlieferung und christlichem Glauben. Einerseits behandelt sein Werk eine fiktive Prähistorie Nordeuropas, andererseits scheint es mit der biblischen Weltsicht kompatibel. 1941 bekannte der Schriftsteller: „Ich habe den größten Teil meines Lebens (…) auf das Studium germanischer Belange verwendet.“ Zwölf Jahre später schrieb er: „Der Herr der Ringe ist natürlich ein von Grund auf religiöses und katholisches Werk.“ 

Hinter den Aussagen steht kein Gesinnungswandel, sondern die Annahme, daß die in den orientalischen Wüsten ergangene Offenbarung keine Ressentiments gegen die Märchen aus den europäischen Wäldern enthält. Engel, Propheten und Apostel waren Tolkien ebenso vertraut wie Elben, Drachen und Zwerge; die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit frühgermanischen Stoffen bildete die Grundlage seiner schriftstellerischen Tätigkeit. 1939 äußerte er sich darüber, wie sich Imagination und Glaube seines Erachtens zueinander verhalten: „Das Evangelium hat die Legenden nicht abgeschafft, es hat sie geheiligt.“ Diese Überzeugung zeigt sich bereits zu Beginn seines Schreibprozesses. 

Der 24. September 1914 gilt als Geburtsstunde von Tolkiens Legendarium; an diesem Tag verfaßte er das Gedicht „The Voyage of Éarendel the Evening Star“. Drei Monate zuvor hatte er den „Christ“ des Cynewulf entdeckt, ein angelsächsisches Predigtwerk aus dem 9. Jahrhundert, das die O-Antiphonen der Adventsliturgie paraphrasiert.

Der Eingangsvers des vierten Abschnitts lautet: „Éala Éarendel, engla beorhtast, ofer middangeard monnum sended.“ Im lateinischen Original trägt diese O-Antiphon vom 21. Dezember den Titel „O Oriens“ und wird ins Deutsche wie folgt übersetzt: „O Morgenstern, /  Glanz des ewigen Lichtes, / und Sonne der Gerechtigkeit / o komm und erleuchte / die da sitzen in Finsternis, / und im Schatten des Todes.“ Tolkien war ergriffen, diese Verheißung im Zungenschlag seiner Vorfahren zu lesen. Cynewulfs „Christ“ führte ihn über tausend Jahre zurück in die Vergangenheit, wobei die Sprache, in der das Dokument verfaßt wurde, noch weit älter ist.

Stern der Hoffnung und Erlösung durch Christus

Vor allem drei Begriffe inspirierten Tolkien: „middangeard“ (Vers 105), „Éarendel“ (Vers 104), „deaþes sceadu“ (Vers 118). Von „middangeard“ leitet der Schriftsteller den Namen seiner Welt Mittelerde ab, womit der von den Menschen bewohnte Raum „zwischen dem Eis des Nordens und dem Feuer des Südens dachte“ gemeint sei – die oikoumene des Imperium Romanum, ebenso wie das Miðgarðr der Edda. Die Nomenklatur des „Herrn der Ringe“ verbindet antikes Erbe mit germanischer Mythologie in einem christlichen Kontext. 

Knotenpunkt sämtlicher Geschichten von Mittelerde ist Eärendil: In ihm laufen alle Genealogien zusammen, er ist Vorfahre Elronds und Aragorns, sein Schiff durchzieht als Stern der Hoffnung die Himmelsbahn. „Éarendel“ ist jenes Wort, das Cynewulf zur Übersetzung von „Oriens“ (Morgenstern) benutzte. Dahinter verbirgt sich ein germanischer Held ähnlichen Namens, dessen Rückkehr ein Stern ankündigt.

Als Philologe kannte Tolkien diesen Zusammenhang, als Katholik wußte er um seine biblische Referenz: „Ich, Jesus (…) bin der strahlende Morgenstern“ (Offenbarung 22,16). Mit Eärendil inkludieren die Geschichten von Mittelerde sowohl die adventlichen Sehnsuchtsrufe als auch heidnische Sagengestalten. Der Morgenstern bietet nicht nur nordischen Seefahrern Orientierung, sondern kündigt Erlösung durch Jesus Christus an.

Er beschreibt die Drangsal der Erbschuld

Mit dem Ausdruck „deaþes sceadu“ (Schatten des Todes) liegt schließlich ein dritter Bezug zwischen dem Cynewulf-Text und Tolkien vor. Mehrfach finden wir den Begriff in der Heiligen Schrift, häufig gebrauchen ihn Kirchenlehrer: Stets beschreibt er die Drangsal der Erbschuld oder die geistige Finsternis der Heiden, womit er die Antithese zur biblischen Licht-Metaphorik bildet. „deaþes sceadu“ ist der Name eines Monsters im altenglischen Beowulf, einem von Tolkien wissenschaftlich untersuchten Heldengesang; im „Herrn der Ringe“ erscheinen die Ringgeister als Schatten des Todes.

So wie Cynewulf die heidnisch geprägte Sprache seiner Landsleute nutzte, um den christlichen Glauben zu kommunizieren, bediente sich Tolkien der Legenden seiner Ahnen, um vom Advent seiner Heimat zu erzählen. Mythos und Logos sind bei ihm zu einer bipolaren Einheit verspannt, welche es ermöglicht, die Wintersonnenwende tiefer zu verstehen. Die ursprünglich zwölf Sehnsuchtsrufe der adventlichen O-Antiphonen korrespondieren mit den zwölf germanischen Rauhnächten von Weihnachten bis Epiphanias. Den im Schatten des Todes sitzenden Völkern des Abendlandes geht Christus, der Morgenstern auf. 

Diese und viele andere Bezüge lassen sich in Mittelerde finden. Unauffällig wie Venus leuchten sie, werden aber nur von jenen erkannt, die ihre Augen zum Himmel heben.

Weiterführende Literatur: Michael Hageböck, Zur Cynewulf-Rezeption bei Tolkien, in: Quarber Merkur 116, Verlag Lindenstruth 2015, S. 184-229





Tolkien

John Ronald Reuel Tolkien wird am 3. Januar 1892 in Südafrika geboren, wo sein Vater eine Bankfiliale leitet. Drei Jahre später zieht die Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder nach England. Bereits in seiner Jugend interessiert er sich für Sprachen, lernt Latein und Griechisch, Alt- und Mittelenglisch, später Gotisch und Walisisch. Früh auch schreibt er erste Gedichte, und ab 1911 studiert Tolkien Vergleichende Sprachwissenschaft. Im Ersten Weltkrieg kämpft er 1916 an der Somme, kehrt danach aber wegen einer Erkrankung wieder nach England zurück. Zwei Jahre arbeitet er am „New English Dictionary“ mit und unterrichtet als Privatlehrer Studenten. Von 1924 an ist er Professor für englische Philologie in Oxford. 1937 veröffentlicht Tolkien das Buch „Der Hobbit“. Es beginnt mit dem längst in die Literaturhistorie eingegangenen Satz: „In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“ 1949 ist „Der Herr der Ringe“ fertig; die drei Bände erscheinen 1954/55, sie machen den Autor weltberühmt. J. R. R. Tolkien stirbt 1973 mit 81 Jahren, begraben liegt er in Oxford.

Die deutschen Übersetzungen von Tolkiens Werk erscheinen bei Klett-Cotta (Stuttgart), zuletzt anläßlich seines Geburtstages eine mit 50 Illustrationen von Alan Lee prächtig ausgestattete Ausgabe von „Der Herr der Ringe“. Für Anfang Mai ist „Beren und Lúthien“ angekündigt, die Liebesgeschichte zwischen einem sterblichen Menschen und einer unsterblichen Elbin, herausgegeben von Tolkiens Sohn Christopher. (tha)

Foto: Filmausschnitt„Der Herr der Ringe – Die Gefährten“: Die Kinotrilogie von Peter Jackson erschien zwischen 2001 und 2003. Sie wurde mit insgesamt 17 Oscars ausgezeichnet, wobei nur der dritte Teil, „Die Rückkehr des Königs“, die goldene Statuette auch in den Hauptkategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“ erhielt. Das Szenenfoto zeigt (v.l.n.r.): Gandalf (Ian McKellen), Aragorn (Viggo Mortensen), den Zwerg Gimli (John Rhys-Davies), den Elben Legolas (Orlando Bloom) und Boromir (Sean Bean). Die Gemeinschaft macht sich mit den Hobbits Frodo Beutlin, Samweis, Meriadoc und Peregrin („Pippin“) auf den Weg nach Mordor, um den magischen Ring zu vernichten.