© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Eine Schlacht, die die Welt veränderte
Das deutsche Scheitern an der Marne / Der kanadische Historiker Holger Herwig über das Kriegsjahr 1914
Jürgen W. Schmidt

Holger Heinrich Herwig wurde 1941 in Hamburg geboren und ist ein kanadischer Militärhistoriker. Jahrzehntelang lehrte er Geschichte an Universitäten in den USA und zuletzt an der Universität von Calgary in Kanada. Bereits seine Dissertation über das deutsche Marineoffizierskorps erregte Aufsehen und erschien deshalb mit einigen Jahren Verspätung auch auf deutsch 1977 unter dem Titel „Das Elitekorps des Kaisers: Die Marineoffiziere im Wilhelminischen Deutschland“. 

Mit seinem 2009 in New York im Verlag Random House erschienenen Buch „The Marne, 1914“ landete der Historiker erneut einen Bestseller, welcher nach mehreren Jahren einen deutschen Verlag gefunden hat. Diese Verspätung ist sehr zu bedauern. Einerseits hat Herwig gleich ab 1990, als die bisher unzugänglichen DDR-Archive zugänglich wurden, viel in Deutschland geforscht und ist vor allem in Dresden fündig geworden. Ein Glücksfall war zudem, daß die Sowjetunion 1988 an die DDR über 3.000 Akten militärischen Inhalts zurückgab, welche später ins Freiburger Militärarchiv wanderten, wo sie Herwig studieren konnte. 

Daß er daneben französische und englische Archive gründlich auf bislang Übersehenes zur Marneschlacht durchforschte, versteht sich von selbst. Zudem gibt Herwig zu Beginn seines Buches über die Marneschlacht unmißverständlich zu verstehen, daß Deutschland 1914 nicht wegen des „Griffes nach der Weltmacht“ in den Kampf zog, wie es der im Feuilleton deutscher Zeitungen heute noch sehr wirkungsmächtige Fritz Fischer (1908–1999) einst zu behaupten pflegte. Niemand in Deutschland habe gemäß Herwig vor 1914 aus finanziellen oder wirtschaftlichen Gründen einen solchen Krieg geplant. Auch der vieldiskutierte „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912, auf welchem man in Deutschland gemäß Fischer die Marschroute in den Weltkrieg absteckte, sei ein einziger großer Mythos. 

Die Entscheidung über den Krieg habe man in Berlin erst Ende Juli 1914 aufgrund der aktuellen politischen Situation getroffen. Deutschland ist gemäß Herwig nicht mit Plänen für eine „kontinentale Hegemonie“ in den Kampf gezogen. Jenes im Zusammenhang damit stets erwähnte Kriegszielprogramm Theobald von Bethmann Hollwegs war vielmehr eine geistige Sturzgeburt des deutschen Reichskanzlers von Anfang September 1914. 

Wirklich bedauernswert ist, daß Herwigs Buch nicht bereits 2014 in der Bundesrepublik herausgeben wurde, da Herwig in vielen seiner Aussagen zum Kriegsausbruch auf der Linie von Christopher Clark liegt. Angesichts des damals von dem Australier angestoßenen regen Leserinteresses hätten seine Thesen sicherlich ihre Wirkung beträchtlich verstärkt. 

Doch legt Herwig den Schwerpunkt seines Buches auf eine minutiöse Darstellung des Ablaufes der Marneschlacht und deren intellektueller Vorgeschichte, wobei Herwig unweigerlich auf den Schlieffenplan und dessen „Verwässerung“ durch den Chef des Generalstabs Helmuth von Moltke (dem jüngeren) zu sprechen kommt. Leider erweist sich Herwig bei seinen Studien ausgerechnet in der „Intelligence History“ (Geheimdienstgeschichte) als nicht sonderlich stark beschlagen. 

Sieg an der Marne wurde von Moltke verspielt

Zudem wurden in sein Buch alle Neuerscheinungen seit dem Jahr 2008 nicht mehr eingearbeitet. Deshalb nutzt Herwig auf dem Gebiet der Geheimdienstforschung vieles nicht, was seine Ergebnisse zusätzlich bekräftigt hätte. Es schmerzt deshalb ein wenig, über den deutschen Spitzenspion August Schluga von Rastenfeld lesen zu müssen, der seine Erkundungsergebnisse über den militärischen Aufmarsch in Frankreich angeblich aus „Gesprächen bei Cocktailempfängen“ bezogen haben soll. 

Doch bei der Darstellung der Kampfhandlungen zu Kriegsanfang 1914 auf der Ebene der einzelnen deutschen und französischen Armeen kommt der militärhistorisch Interessierte voll auf seine Kosten. Man sieht mit wachsender Spannung, wie Frankreich unter seinem Oberbefehlshaber Joseph Joffre voller Ungeduld und aus politischem Kalkül im Elsaß zur Offensive überging, welche deutscherseits an der Vogesenfront relativ leicht abgewehrt werden konnte. 

Inzwischen machte sich der bedrohliche deutsche Schwenkungsflügel, bestehend aus 1., 2. und 3. Armee, über Belgien auf den Weg und warf mit gewaltiger Kraft alle Widerstände zurück, inklusive des zähen Widerstands der belgischen Armee und des militärisch sehr zögerlich operierenden britischen Expeditionskorps. Auf dem Höhepunkt der Schlacht behielt Joffre indessen die Nerven und zugleich die Truppenführung fest in den Händen, während die operative Führung seinem Gegenspieler Moltke zu dem Zeitpunkt bereits völlig entglitten war und jeder deutsche Armeebefehlshaber nur noch sein Süppchen entsprechend der Lage an seinem konkreten Frontabschnitt zu kochen versuchte. 

Gemäß Herwig ist die Marne-schlacht seitens der deutschen Armeeführung vorzeitig und sachlich unbegründet abgebrochen worden und hätte möglicherweise mit einem Sieg geendet. Allerdings hätte ein deutscher Sieg an der Marne, hier äußert sich Herwig sehr eindeutig, nicht automatisch das Kriegsende im Jahr 1914 oder gar einen deutschen Sieg im Ersten Weltkrieg bedeutet. 

Holger H. Herwig: Marne 1914 – Eine Schlacht, die die Welt veränderte? Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 339 Seiten, Abbildungen, 39,90 Euro