© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Im Namen des abweichenden Denkens
Wissenschaftsfreiheit: Um die Wertschätzung präziser Beschreibung, klarer Begriffe und akademischer Debatte ist es schlecht bestellt
Stefan Scheil

Die Entlassung aus der universitären Lehrtätigkeit wurde von einer üblichen Floskel begleitet: Man fühle sich am Institut der Universalität des „abweichenden Denkens“ verpflichtet. Daher werde der Mitarbeiter „in allen leitungsrelevanten Bereichen durch einen jüngeren Kollegen ersetzt“. Der Betroffene hieß Marc Jongen, war bis in das Jahr 2016 hinein Philosophiedozent in Karlsruhe, und sein ausdrücklich genanntes einziges Vergehen lautete, es habe „eine veröffentlichte Debatte“ um seine Mitgliedschaft in „einer durch den Staat zugelassenen Partei“ gegeben. An den Inhalten seiner Lehrveranstaltungen gab es nichts zu kritisieren.

Man kann sich denken oder weiß es bereits, die Partei heißt AfD. Aber dies soll hier im weiteren nicht der Schwerpunkt des Interesses sein. Wichtiger scheint der unfreiwillige und wahrscheinlich sogar unbewußte Hohn, mit dem hier im Namen des abweichenden Denkens der abweichende Denker um seine akademischen Entfaltungsmöglichkeiten gebracht wurde. Dieser Widerspruch springt derart ins Auge, daß man nach den Bedingungen fragen muß, unter denen so etwas möglich ist. Der Fall Jongen ist schließlich nicht der erste und nicht der einzige.

Mit der Freiheit von Forschung und Lehre hat es in der Bundesrepublik Deutschland schon immer eine besondere Bewandtnis gehabt. In diesem Bereich ein Leuchtturm zu sein, gehört sozusagen zum Staatsverständnis. Das Grundgesetz garantiert deshalb beides und macht sogar ein bemerkenswertes Zugeständnis: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“ (Art. 5, Abs. 3). Es ist demnach die Lehre, deren Ausübung ausdrücklich an die Grundgesetztreue gebunden ist, jedoch weder die Wissenschaft als Ganzes noch die Forschung im speziellen.

Winzige, aber lautstarke   Politgruppen machen mobil

Ergebnisoffener Tätigkeit in diesem Bereich sollte also eigentlich nichts im Wege stehen, auch die Lehre hat rechtlich einen weiten Spielraum. Soweit die Theorie. In der Praxis hat die Bundesrepublik im Lauf ihrer jetzt bereits längeren Geschichte sehr verschiedene Zustände erlebt, auch solche wie heute, die sich teilweise am Rand des Verfassungsrahmens bewegen, den die Grundgesetzkonzeption setzen wollte. Das hing zunächst zuweilen stark von den Verhältnissen am jeweiligen Institut ab, später zusehends von der Einebnung der Freiheiten durch politisch „engagierte“ Lehre.

Heute wird beides von einer gesellschaftlichen Praxis überlagert, die das Interesse an präziser Beschreibung, klaren Begriffen und der akademischen Debatte weitgehend verloren hat. Das ist ein allgemeines Phänomen, das sich keineswegs auf den politik- oder geisteswissenschaftlichen Bereich beschränkt.

So tobt seit bald dreißig Jahren im naturwissenschaftlich-technischen Bereich der deutschen Universitäten die Auseinandersetzung um die sogenannte „Zivilklausel“. Das Ziel von kleinen bis winzigen, aber lautstarken Politgruppen, die unter den Studenten mobilisiert werden, ist das Verbot jedweder Forschung an den Instituten, die später eventuell im Rüstungsbereich verwendet werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn sich eine solche Nutzung nur sehr indirekt ergeben könnte. Die unvermeidliche Unschärfe, was darunter alles zu verstehen sein könnte, schafft weniger Frieden als vielmehr neue Potentiale für Dauerstreit und forschungsfeindliche Überwachungsstellen. Dessen ungeachtet hat sich seit 1986 eine größere Anzahl von Universitäten eine solche Zivilklausel gegeben, derzeit sind es etwa siebzig.

Mit welchen Methoden dabei vorgegangen wird, läßt sich etwa an der Meldung des Internetportals Wikipedia ablesen, an der Universität Augsburg habe sich in einer „Vollversammlung“ eine Mehrheit von 77 Prozent der Studenten für eine Zivilklausel ausgesprochen. In der Tat waren es 144 Pro-Stimmen gegen 38 Nein-Stimmen. Die Universität Augsburg hat zwanzigtausend Studenten, deren Mehrheitsmeinung demnach ebenso unbekannt ist, wie sie von den Organisatoren der Zivilklauselpolemik als irrelevant erachtet wird.

Dennoch hat dies Wirkung auf den Einsatz von Geldern und auf das Forschungsklima. Ein weiteres Beispiel für solche Auseinandersetzungen ist deshalb der Kampf um die Hirnforschung an der Universität Bremen. Die Bremer Forscher, die in diesem Bereich am Einsatz von Tierversuchen festhalten wollten, gerieten unter immer hemmungsloser werdendes Dauerfeuer (JF 27/14). „Tierexperimentatoren“ seien „Wesen besonderer Art – man sollte sie nicht leichtfertig Menschen nennen“, so lautete dann der erste Satz einer teuren, ganzseitigen Anzeigenkampagne in der Regionalpresse, aber auch dem Tagesspiegel aus Berlin und der FAZ. In diesem Fall stellten sich Rektor und schließlich Gerichtsurteile schützend vor die Angegriffenen.

Wer am meisten publiziert und erwähnt wird, ist König

Es stellt sich die Frage, ob der vielfach beklagte Zustand in der forschungsfeindlichen und glattgebügelten akademischen Öffentlichkeit dieser Tage wirklich von der prekären Situation des universitären Mittelbaus begünstigt wird. Das wird regelmäßig als Argument vorgebracht, und in der Tat scheint es plausibel zu sein. Wer wird als Jungakademiker schon die ohnehin geringen Aussichten auf einen Lehrauftrag oder eine unbefristete Tätigkeit durch provokante Thesen gefährden? Dagegen spricht jedoch, daß auch beamtete Hochschullehrer im Range des Professors sich keineswegs freier fühlen. Dem Autor dieser Zeilen teilte ein solcher auf Nachfrage wegen einer negativen Rezension einmal mit, die Dinge seien eben nun mal, wie sie seien. Man könne ihn nur extrem kritisch besprechen oder völlig totschweigen. Ob ihm denn Totschweigen lieber wäre?

Was den Professoren in diesem Bereich trotz Verbeamtung droht, ist zwar nur selten eine Strategie der umfassenden sozialen Vernichtung, wie sie jahrzehntelang gegen den im vergangenen Spätsommer verstorbenen Historiker Ernst Nolte gefahren oder gegen den Soziologen Jost Bauch versucht wurde. Häufiger sind Einschränkungen bei der Einwerbung der für die Institute so wichtigen Drittmittel. Spitzenforschung ist in der Regel nur möglich, wenn Industrie oder private Stiftungen den Etat der Universität großzügig aufstocken. Forschungsarbeiten in enger Verbindung zur Industrie helfen nicht nur dem Standort Deutschland, sondern eröffnen auch berufliche Perspektiven für den Nachwuchs und das Ansehen des verantwortlichen Professors. Dies zu verlieren, kann faktisch das wissenschaftliche Aus bedeuten.

Zu diesem Risiko gesellt sich die heutzutage oft auf platteste Weise festgestellte wissenschaftliche Stellung des Forschers in der Welt. Es gibt Ranglisten, auf denen einfach verzeichnet wird, wer am meisten von anderen Wissenschaftlern in Aufsätzen oder Monographien erwähnt wurde. Als unvermeidliche Folge drehen sich Fachbereiche aller Art in erster Linie um sich selbst. Es muß dafür permanent publiziert werden, auch wenn es nichts Neues zu publizieren gibt. So häufen sich denn die nichtssagenden naturwissenschaftlichen Aufsätze und solche, in denen den nicht vorhandenen Forschungsergebnissen mit kreativer Interpretation nachgeholfen wird.

Weltweit gibt es einen Trend, diesen Druck noch zu erhöhen, indem die Mittelvergabe an die „Nützlichkeit“ der jeweiligen Forschungsprojekte und Universitätsinstitute geknüpft wird. Auch die allerorten in Europa übliche Forderung nach „Exzellenz“ stellt nicht nur den Geisteswissenschaften die Existenzfrage. Da politische Vorgaben, etwa die tatsächlich gleiche Stellenverteilung von Mann und Frau, die „positive“ Diskriminierung angeblich unterdrückter Minderheiten, die Genderideologie oder auch die bedingungslose Annahme fragwürdiger naturwissenschaftlicher Modelle etwa im Rahmen der Klimaforschung als Kriterium für das Erreichen von Exzellenz mit herangezogen werden, ist es mit der Freiheit der Forschung auch in den Natur- und Ingenieurwissenschaften nicht mehr weit her.

So ist denn die Universität ein Spiegelbild einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Freiheit sowohl unter dem ökonomischen Druck als auch zugunsten des Ziels einer imaginären „Gleichheit in Vielfalt“ aufzugeben, über deren Einhaltung eine einflußreiche Kaste wachen soll. Daher ist es kein Zufall, wenn, wie in Karlsruhe geschehen, unter Berufung auf die Wertschätzung des abweichenden Denkens der Denker entmachtet wird. Die Ironie dieser Botschaft fällt vielen Beteiligten wohl schon gar nicht mehr auf.

Foto: Forschungsfeindliche und glattgebügelte akademische Öffentlichkeit: Gegen den Historiker Ernst Nolte (l.) wurde eine Strategie der umfassenden sozialen Vernichtung gefahren; der Philosoph Marc Jongen wurde wegen Mitgliedschaft in der AfD geschaßt