© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Der Schuldkult erneuert sich
Mythisierung: Die dem NSU zugeschriebenen Opfer werden zu einem Teil der Gedenklandschaft gemacht
Thorsten Hinz

Im NSU-Prozeß vor dem Oberlandesgericht München liegt nach mehr als dreieinhalb Jahren, trotz 480 Seiten Anklageschrift, 650 Aktenordnern und Aberhunderten Zeugen noch immer kein rauchender Colt auf dem Tisch und gibt es mehr Fragen als Gewißheiten. Der NSU-Komplex, der im November 2011 öffentlich gemacht wurde und seither als Tatsache gehandelt wird, muß korrekterweise als Arbeitshypothese betrachtet werden, deren Verifizierung nach wie vor aussteht.

Davon unberührt führt er sein prä- oder postfaktisches Eigenleben. Von ihm nährt sich eine lange Verwertungskette aus Politikern, Journalisten, Sachbuchautoren, Extremismus-Experten, Verbandsvertretern, Künstlern. Tagespolitisch legitimiert der NSU den „Kampf gegen Rechts“. Seine strategische Bedeutung entfaltet er als zweite, ergänzende Ursprungserzählung für eine multikulturelle Bundesrepublik.

Von Anfang an wurden die Toten als Blutzeugen und Stifter eines neuen Gründungsmythos geheiligt. So wurden im Februar 2012 auf der zentralen Gedenkfeier von Bundesregierung, Bundesrat, Bundestag und Verfassungsgericht für die zehn Mordopfer zwölf Kerzen entzündet. Die Zwölf ist in der griechischen Mythologie und im christlich-jüdischen Religionskreis eine magische Zahl (siehe: „Wenn alle einer Meinung sind“, JF 48/12). Schon im November 2011 hatte die Kanzlerin im Bundestag von einer „Schande für Deutschland“ gesprochen und damit den Morden eine nationale und darüber hinaus transzendente Bedeutung verliehen. Ihre Worte appellierten an das Gefühl universeller Schuld, jenes kollektive Grundgefühl der Bundesrepublik, das vom zum „Gründungsmythos“ (Ex-Außenminister Joschka Fischer) erhobenen Auschwitz herrührt. Mit ihm ist der „Nationalsozialistische Untergrund“ als die scheinbare Nachwehe der NS-Vergangenheit als sekundärer Staatsmythos leicht kompatibel.

Der Ägyptologe Jan Assmann nennt den Mythos „die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit“. Er wirkt identitäts- und sinnstiftend sowie handlungsleitend. Seine Implementierung und Kultivierung verwirklicht sich in der „Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung“. Die Herrschaft – heute: der politisch-mediale Komplex – legitimiert sich durch die Deutungshoheit über die Vergangenheit und versucht sich zugleich in die Zukunft fortzuschreiben. 

Mythisierungen erfolgen durch Verbildlichung – Ikonisierung –, durch die Erzählung, die unterschiedliche Varianten zuläßt, und die rituelle Inszenierung. Am schwierigsten ist in diesem Fall die ikonische Verdichtung, denn um die mutmaßlichen NSU-Opfer aus der täglichen Bilderflut von A-, B-, C-Promis dauerhaft herauszuheben, müßten sie das Charisma eines Che Guevara besitzen. 

Das Problem wird gelöst, indem die Toten zu Elementen einer interaktiven Gedenk- und Erinnerungslandschaft gemacht werden, in der die Ikonik, das Ritual und die Erzählung miteinander verschmelzen. Nach ihnen sind Straßen und Plätze benannt worden, sowohl dauerhaft als auch in temporären Aktionen: Am 4. November 2014, drei Jahre nach dem Bekanntwerden des NSU, wurden in ganz Deutschland zeitgleich Straßen symbolisch umgewidmet. So verwandelte der zentrale Münchner Max-Joseph-Platz sich in den Ismail-Yasar-Platz – eine Kombination aus Ikonik und Ritual.

Die Oberbürgermeister der Städte Kassel, Nürnberg, München, Rostock, Dortmund, Heilbronn und Hamburg, in denen die Morde begangen wurden, verständigten sich darauf, Gedenktafeln zu errichten. Darauf werden alle Opfer namentlich genannt, außerdem enthalten sie die einheitliche Botschaft: „Neonazistische Verbrecher haben zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in sieben deutschen Städten ermordet: Neun Mitbürger, die mit ihren Familien in Deutschland eine neue Heimat fanden, und eine Polizistin. Wir sind bestürzt und beschämt, daß diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“ Hier werden die Namen mit einem erklärenden und handlungsleitenden Narrativ verknüpft, das in unzähligen Varianten wiederholt wird.

Die Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ hat bisher fast 120 Städte in Deutschland erreicht. Es finden Theateraufführungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen rund um den NSU statt, wobei zuletzt Sachsen einen Schwerpunkt bildete. In Berlin bringt die „Bühne für Menschenrechte“ die Produktion „Die NSU-Monologe – Der Kampf der Hinterbliebenen um die Wahrheit“ zweisprachig zur Aufführung. Das Fotoprojekt „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“ der Fotografin Regina Schmeken wurde an einem geschichtspolitisch zentralen Ort, im Militärmuseum in Dresden, ausgestellt. Die ARD sendete eine ganze NSU-Trilogie, der zweite Teil trug den suggestiven Titel: „Mitten in Deutschland: NSU“. Das ist nur eine kleine Auswahl, die noch nicht einmal die vielen Sachbücher und neuerdings auch Kriminalromane berücksichtigt.

In Köln, wo dem NSU ein Nagelbombenanschlag zugeschrieben wird, soll auf einer 6 mal 25 Meter großen Betonplatte ein Multimedia-Denkmal entstehen, das permanent aktualisiert und von Besuchern mit dem Smartphone erschlossen wird. Zuständig als städtische Dienststelle ist das NS-Dokumentationszentrum, dessen Chef die Auseinandersetzung mit dem NSU als die Fortschreibung und Auffrischung der Vergangenheitsbewältigung bestätigt: „Ein Denkmal muß errungen werden. Jetzt hat man noch die besondere Form, die NS-Zeit ist lange her, und die Denkmäler, die wir errichten, sind natürlich für Denkmäler, wo Leute schon lange tot sind. Und hier sind die Wunden offen, die Menschen leben (...).“

Damit ist der Unterschied zwischen dem „kalten“ und „heißen“ Mythos angesprochen. Der „kalte“ Mythos ist erstarrt und nur bedingt geeignet, neue Entwicklungen zu integrieren. So lautet die aus Auschwitz abgeleitete Handlungsanweisung, niemanden auszugrenzen, weil Ausgrenzungen der erste Schritt zur Eliminierung sind. Die offizielle Bundesrepublik versteht sich deshalb nicht mehr national, sondern buchstäblich weltoffen. Nur stellen ihre offenen Grenzen neben der eigenen Existenz auch die Plausibilität ihres Gründungsmythos zur Disposition, ermöglichen sie doch die Einwanderung von Menschen, welche die Holocaust-Schuld keineswegs teilen wollen, die sogar judenfeindlich sind und eigene Mythen pflanzen.

Der „warme“ NSU-Mythos soll die Paradoxien innerhalb der Selbstabschaffung auflösen. Es handelt sich um einen sekundären Schuld- und Opfermythos, der den alten Gründungsmythos ergänzt und ihm einen Wärmestrom zuführt. Die Deutschen erneuern sich darin als Schuldgemeinschaft, die in der Pflicht steht, die Dritte-Welt-Migranten zu integrieren, während diese als Opfergruppe ihre umfassende Teilhabe als Form der Wiedergutmachung einfordern können. Indem man sie einlädt, mittelbar am primären Schuld- beziehungsweise Gründungsmythos zu partizipieren, versucht man von ihnen dessen Akzeptanz zu erkaufen.

Das Verfahren beeindruckt allerdings nur die Deutschen, während Zuwanderer darin die Abdankung einer schwachen Nation erkennen. Auf einer Gedenkveranstaltung von Migrantenverbänden im November 2016 in Berlin fielen diese Worte: „Aus den NSU-Morden lernen heißt für uns, kein Vertrauen auf die staatlichen Instanzen zu setzen (…) Migranten und Migrantinnen müssen sich die Frage stellen, wie die Selbstverteidigung langfristig selbst organisiert werden kann.“

Der NSU-Prozeß ist weniger eine juristische Angelegenheit denn als Arbeit am Mythos zu verstehen.