© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Europa wie nach dem Dreißigjährigen Krieg
Ein Sammelband über Visionen der Europäischen Union, in denen Deutschland die einzige aufgelöste Nation ist
Peter Seidel

Selten gibt es Autoren, die ihre Vision von „Vereinigten Staaten von Europa“ beziehungsweise einer „politischen Union“ mit Inhalten füllen. Es dominiert taktische Vorsicht, nur ja keine Widerstände zu aktivieren. Eine brillante und sehr offenherzige Ausnahme bildet hier der Vortrag von Brendan Simms über das europäische Problem und seine „Churchill-Lösung“, gehalten auf einem Colloquium in Salzburg und abgedruckt in einer Festschrift für Joachim Jens Hesse. Der Herausgeber der Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften wurde, wie es im Vorwort heißt, zunehmend skeptischer „gegenüber der Form und dem Verfahren, nationalstaatliches Handeln zu vergemeinschaften“. 

Der Sammelband trägt den Titel „Nationalstaat und Europäische Union“ und teilt sich in vier Kapitel, die sich mit historischen Zugängen zur EU, Entwicklungsschritten und Krisen, Akteuren und Politiken und, dem wichtigsten Teil, mit Handlungsoptionen zukünftiger Europapolitik beschäftigen. Hier ist es vor allem der Beitrag von Simms, der Beachtung verdient. Nicht nur, weil er eine gut begründete britische Position darlegt, sondern auch, weil er damit zugleich Hinweise auf Charakter und Zielsetzung gegenwärtiger Europapolitik gibt. 

Churchills Nachkriegspläne  für Europa neu aufgekocht

Für die „Vereinigten Staaten von Europa“ will Simms „einen neuen Westfälischen Frieden“, garantiert durch die westlichen Siegermächte des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie des Kalten Krieges, die USA, Großbritannien und Kanada, so wie die Siegermächte des Dreißigjährigen Krieges, Frankreich und Schweden, vertraglich Garanten der Ordnung des Deutschen Reiches wurden. Die „innere Dekoration“ dieses Europas könne man den Verhandlungen und Entwicklungen der Europäer überlassen. Was er für Großbritannien möchte, ist „nicht ein europäisches Britannien, sondern ein ‘britisches Europa’“, auch durch einen Brexit.

Für Deutschland hat er klare Vorstellungen: Da für ihn europäische Probleme und „das deutsche Problem“ ein und dasselbe sind, zitiert er zustimmend aus Churchills berühmter Züricher Rede 1946, den er so zum Kronzeugen für die von ihm favorisierte „Churchill-Lösung“ macht, „die alten Staaten und Fürstentümer Deutschlands (...) könnten jeder für sich ihren individuellen Platz innerhalb der Vereinigten Staaten von Europa einnehmen“. In diesem Sinne hat etwa der damalige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers von Nordrhein-Westfalen am 20. Oktober 2006 zur Rolle der Bundesländer im deutschen Fernsehen vorausgegriffen, die Bundesländer seien „selbständige Staaten“.

Und Frankreich? Simms erwähnt es nur am Rande. Glaubt er ernsthaft, das Land könne sich für seine Sicht der Dinge erwärmen? Frankreich möchte zwar vom deutschen Kuchen essen, gleichzeitig aber den französischen für sich behalten. Nicht nur die EVG in den fünfziger Jahren ist daran gescheitert, sondern in den neunziger Jahren auch die „politische Union“, die Helmut Kohl gleichzeitig mit der Aufgabe der D-Mark und der Entmachtung der Bundesbank in Maastricht anbot. Dies zeigt: Frankreichs Interesse an einem Aufgehen in einem europäischen Bundesstaat strebt ebenso gegen Null wie das Britanniens.

Simms Vorstellung für sich genommen ist eine „Professorenidee“, die sich allerdings grundsätzlich und in wesentlichen Teilen auf Brüsseler Vorstellungen stützt. Das gilt offenbar auch für Berlin. Deshalb erscheint die deutsche Europapolitik nur vordergründig als „planlos“ und ohne eigene Strategie für die Entwicklung der Eurozone, sondern „rein reaktiv“, verlegt auf Verzögerung und Abmilderung dessen, was die Defizitländer unter französischer Führung mit „klarer Agenda“ (Becker/Fuest 2016) immer weitergehenden Forderungen in Richtung Transfer- und Sozialunion entwickeln. Es erklärt auch die Gedrücktheit deutscher Europapolitik (etwa beim Non-Grexit-Gipfel 2015), die dann auch noch „Glauben“ in ihre Richtigkeit und „Begeisterung“ für ihre Ziele erwarte.

Ähnlich der deutschen Europapolitik läßt auch die Mehrheit der deutschen Beiträge in dieser Festschrift eine klare politische Linie vermissen. Gegenüber einem strategischen Ansatz wie dem von Simms sind diese eher taktischer Natur. Deshalb ist die „Denkschrift“ von Werner Abelshauser über eine „Einigung Europas in Vielfalt“ der interessanteste deutsche Beitrag, der sich ausdrücklich mit „Deutschlands Interesse“ und den „Konsequenzen für den Euroraum“ beschäftigt und erste wichtige Alternativvorschläge zur heutigen Politik entwickelt. 

Beiträge von renommierten Autoren wie Peter Graf Kielmansegg, Bernd Raffelhüschen und Udo Di Fabio runden den teils sogar fesselnden Sammelband ab, auch wenn dieser offenbart, daß eine kritische Bestandsaufnahme deutscher Europapolitik noch aussteht, obwohl der Band den Untertitel „eine Bestandsaufnahme“ trägt. Andere wie Johannes Becker und Clemens Fuest sind da inzwischen weiter („Der planlose Hegemon“, FAZ vom 2. Dezember 2016).

Anthony B. Atkinson, Peter M. Huber u. a. (Hrsg.): Nationalstaat und Europäische Union. Eine Bestandsaufnahme. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016, gebunden, 396 Seiten, 98 Euro