© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Über Regeln hinwegsetzen
Ziviler Ungehorsam: Mit Recht und Gesetz hat Merkels Regierungspolitik nichts zu tun
Konrad Adam

Wenn es ernst wird, denkt man an Thomas Hobbes, den Theoretiker des starken Staates. Er hatte die Glaubenskämpfe in Europa miterlebt und wußte, was der Krieg aller gegen alle bedeutet. Um dieses größte aller denkbaren Übel zu vermeiden, gab Hobbes eine Antwort, die ihm die Bewunderung, aber auch den Haß der Nachwelt eingetragen hat. Er wurde zum Apologeten des starken, des übermächtigen, des absoluten Staates: des Leviathans, wie er ihn nannte. Ihm gab er alle Macht, denn nur ein starker Staat sei in der Lage, das höchste Gut zu verteidigen, den Frieden.

Hobbes als den Propheten der absoluten Staatsgewalt zu betrachten, greift allerdings zu kurz. Denn ebenso kühl wie die Macht hat er ihr Gegenstück analysiert, das Recht auf Widerstand. Gerade weil die Gewalt um jeden Preis bekämpft werden muß, ist das Recht, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, unabdingbar. Auch hier ist Hobbes konsequent: Zweck des Vertrages, mit dem sich der Bürger dem Machthaber unterwirft, ist ja nichts anderes als die Verteidigung des elementarsten von allen Menschenrechten, des Anspruchs auf Leben und Gesundheit. Ein Tauschgeschäft: der Herr verspricht Schutz, der Diener Gehorsam. 

Versäumt es der Oberherr, den Vertrag zu erfüllen und die Bürger vor gewaltsamen Angriffen zu bewahren, werden die Machtunterworfenen von ihrer Verpflichtung frei. Das Recht, sich zu verteidigen und Widerstand gegen die Gewalt zu leisten, fällt dann an sie zurück. Hobbes läßt keinen Zweifel: wenn ihnen der Oberherr zumutet, einen gewaltsamen Angriff zu dulden, haben die Bürger das Recht, den Gehorsam aufzukündigen und sich gegen den Einbruch der Gewalt selbst zu schützen. 

Zu einer solchen Zumutung haben sich die Merkel, Maas und de Maizière verstanden, als sie den Bürgern erklärten, der Terror sei in Deutschland angekommen, von jetzt an hätten sie mit ihm zu leben – die Bürger, wie gesagt, nicht sie. Sie selbst, die sogenannten Volksvertreter, haben nichts zu befürchten. Sie sind in gepanzerten Fahrzeugen unterwegs, genießen Polizeischutz rund um die Uhr und wohnen dort, wo sich die abgerissenen Gestalten, die sie zu Hunderttausenden ins Land geholt haben, nicht blicken lassen dürfen. Sicherheit für uns, nicht für die anderen, heißt ihre Devise: die uns, die anderen, vom Gehorsam entbindet und zum Widerstand berechtigt. 

Das Wort ist zur billigen Münze geworden, seitdem es den Linken gefallen hat, den Widerstand, den sie im Dritten Reich versäumt hatten, unter den kommoden Bedingungen der Bundesrepublik nachzuholen. Ihr theatralisches Aufbegehren gegen die Wehrpflicht, die Notstandsgesetze, den Nato-Doppelbeschluß sind die bekanntesten Stationen auf diesem linken Narrensprung. Mit der Begründung taten sie sich leicht: „Irreversible Entscheidungen“ seien illegitim, stünden der Demokratie nicht zu, entzögen sich der Mehrheitsregel und forderten zum Widerstand heraus. 

Schrittmacher der Bewegung waren viele, am lautesten Jürgen Habermas. Wenn die Verfassung vor neuen, konkreten Herausforderungen versage, dozierte er vor dem Kulturforum der SPD, müsse das Volk – er sagte wirklich Volk! – in der Gestalt seiner Bürger „in die originären Rechte des Souveräns eintreten und den Gehorsam aufkündigen dürfen“. Das war und blieb die Begründung für den von ihm und seinen Freunden propagierten zivilen Ungehorsam.  

Sie galt so lange, wie die Ungehorsamen nicht an der Macht waren; danach wurde alles anders. Nach dem Wechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün posierte Otto Schily als Innenminister mit Polizeihelm und drohend erhobenem Schlagstock vor der Kamera, um Ruhe und Ordnung als erste Bürgerpflichten anzumahnen. Im Rechtstaat, so seine Begründung, gebe es kein Bürgerrecht auf zivilen Ungehorsam.

Im Rechtsstaat? Was ist von dem denn übrig, seit Angela Merkel die Regierung führt? Seit sie die Grenzen öffnete und das Parlament entmachtet hat? Die Genfer Flüchtlingskonvention ist nichts mehr wert, das Abkommen von Dublin läuft leer, das Grundgesetz wird verhöhnt und mißachtet. Inzwischen ist der Rechtsbruch zur Grundlage der Regierungstätigkeit von Angela Merkel geworden.

An die Stelle von Recht und Gesetz, Verfassung und Vertrag ist ein humanitär verblasener Imperialismus getreten, der Menschenrecht und Hilfsbereitschaft als Ausreden benutzt, um sich über Regeln, geschriebene und ungeschriebene, hinwegzusetzen. Die von Frau Merkel eigenmächtig verfügte Grenzöffnung ist der bislang massivste Angriff auf die Demokratie, denn wie jede Gemeinschaft braucht auch die Demokratie Grenzen. Ohne zu wissen, wer dazugehört und wer nicht, sind Wahlen und Abstimmungen sinnlos. Wo alle irgendwie dazugehören und irgendwie betroffen sind, lassen sich Mehrheiten und Minderheiten nicht mehr ermitteln. Dann hängt die Demokratie in der Luft – und soll das wohl auch.

Was da heraufzieht, ist die totalitäre Variante der Demokratie. Ihre Anhänger betrachten das Mehrheitsprinzip nicht bloß als eine Maßregel der praktischen Vernunft, sondern als Vorboten der Wahrheit. Sie berufen sich auf Habermas, der im Mehrheitsentscheid den Ersatz für den zwanglosen Konsens erkennen wollte, „der sich ergeben würde, wenn man nicht stets die Diskussion unter Entscheidungszwang abbrechen müßte“. Habermas hält es mit Rousseau, dem die Mehrheit ja nicht nur Zweckmäßigkeit, sondern auch Wahrheit zu verbürgen schien. 

Wer bei der Minderheit landet, heißt es im Contract social, hat nicht nur Pech gehabt; er hat sich auch geirrt und muß das öffentlich bekennen. „Wenn die Gegenmeinung siegt, heißt das nichts anderes, als daß ich mich getäuscht habe und das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war“, schreibt Rousseau. Er wirbt für jene Art von Meinungsdruck, die man noch kürzlich als totalitär bezeichnet hätte, inzwischen aber lieber politisch korrekt nennt. 

Mit Wahrheit hat das alles nichts zu tun. Was von Frau Merkel und ihrer Clique durchgeboxt wird, ist aber nicht nur irreversibel; es ist viel schlimmer, denn es wird seine ganze Stoßkraft erst dann entfalten, wenn sich die vielen jungen Männer, die sie ins Land gebeten hat, daranmachen, die Mehrheit im Land zu erobern. Eine Mehrheit, die auf Minderheiten keine Rücksicht mehr nimmt. 

Zum Widerstand dürfte es dann zu spät sein; heute vielleicht noch nicht. Deswegen: Hobbes lesen, Rousseau vergessen und Habermas verwerfen. Und sich ans Grundgesetz halten, das uns zum Widerstand gegen jeden berechtigt, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Ist sie noch möglich?