© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Spiel zwischen Schein und Sein
Epoche der Gegensätze: Eine Ausstellung in Mannheim beleuchtet die mannigfachen Ausdrucksformen des Barock
Felix Dirsch

Die Bezeichnung „Barock“ impliziert Vielfältiges, ja oft Gegensätzliches. Einerseits ist sie relativ konkret: Wir haben keinerlei Probleme, bekannte Musiker dieses Zeitalters wie Bach oder Händel anzugeben, namhafte Künstler wie Rubens oder Rembrandt und herausragende Dichter wie Gryphius oder Grimmelshausen. Andererseits fällt es schwer zu sagen, was man unter „Barock“ genau versteht. Handelt es sich um eine Epoche, eine Stilrichtung, eine Charakterisierung oder ein wenig von allem? Eine Möglichkeit des Zugangs, die ebenso nicht unproblematisch ist, ist die begriffliche. Gemeint ist üblicherweise ein Hang zum Übermäßigen, Verschnörkelten, Überladenen, Regellosen und so fort, im Gegensatz zum Ideal des Maßes und des Vollendeten in der Klassik. Freilich sind heute für selbstverständlich erscheinende Umschreibungen, etwa Barockmusik, aus dem Rückblick verfaßt. Über das entsprechende Zeitalter selbst sagen solche Definitionen wenig.

Eine besondere Schwierigkeit bereitet die theoretische Eingrenzung. Nimmt man den basso continuo, die instrumentale Begleitung der untersten Stimme eines polyphonen Musikstückes, als Wesenszug der Barockmusik und tut diese nicht – wie öfter geschehen – als „Hirngespinst“ (Silke Leopold) ab, so bleibt immer noch die Frage nach dem periodischen Anfang und Ende. Bereits vor 1600 kann man den „Generalbaß“ feststellen, ebenso aber auch noch bei Mozart. Für die Forschung ist dadurch kaum etwas gewonnen.

Die vielleicht nie befriedigend zu klärenden Sachverhalte bezüglich des Barocks sind also Legion. Ganz allgemein läßt sich aber konstatieren: Barocke Versuche der Ordnungsstiftung, etwa auf dem Sektor der Politik, und die Absicht, materielle, rituelle und konfessionelle Sicherheiten im gesellschaftlichen Bereich zu finden, sind zentrale Antworten auf vor allem zwei wesentliche Umwälzungen seit dem 16. Jahrhundert: die Eröffnung neuer Räume infolge der Entdeckungen, weiter die Erschütterungen durch die vornehmlich religiös begründeten Bürgerkriege. Diese Erfahrungen lassen die Zeitgenossen nach Halt in ihrem Dasein suchen.

Das Exotische löst große Faszination aus

Der Stoff für eine Ausstellung ist vor diesem Hintergrund immens. Die Präsentation des Reiss-Engelhorn-Museums, die auf zwei Stockwerken zu sehen ist, wird in sechs Hauptthemen gegliedert: Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit. Die Initiatoren bieten eine große Zahl von Exponaten, vermieden jedoch eine Überfrachtung.

Die Eroberung neuer Kontinente läßt einige wichtige Voraussetzungen erkennen, die gut dargestellt werden: zum einen neue Techniken des Schiffsbaus, aber auch verbesserte Möglichkeiten der Navigation. Der Ausgriff nach Übersee bringt, je länger, desto mehr, zahllose Konsequenzen für die Heimatländer der Konquistadoren mit sich. Die durch die Weitung der Räume ausgelöste Bewußtseinsrevolution wird auch durch die Modellierung etlicher bekannter Globen deutlich. Einer von ihnen stammt von Jodocus Hondius. Zudem geben Reiseberichte, Karten und eine Fülle von Gütern aus den neuen Gebieten Auskunft über die Eindrücke von einer Welt, die langsam ganzheitlich wird. Das Exotische löst große Faszination aus. Innerhalb Europas entstehen viele neue Handelsnetze und so eine intensivierte Kommunikation.

Die Ausstellung gibt exzellente Einblicke in die Vielfalt des Barocks. So existieren zahlreiche Formen von bitterer Armut, nicht selten kriegsbedingt, aber auch solche des Überflusses. Die gepuderten Perücken, von denen einige bestaunt werden können, Sinnbild der Oberschichtszugehörigkeit, stellen nur eine von vielen luxuriösen Seiten des Lebens dar.

„Rubensformen“ sind bis heute sprichwörtlich

Natürlich fehlen repräsentative Bilder des Zeitalters nicht, sind doch „Rubensformen“ bis heute sprichwörtlich. Die Wirklichkeit ist jedoch auch hier differenzierter. Die „Büßende Maria Magdalena“, angefertigt von dem italienischen Maler Orazio Lomi Gentileschi, zeigt eine Frau, die – anders als das nicht weit entfernt zu bewundernde Gemälde von Susanna – durchaus keine üppigen Rundungen aufweist. Vanitas-Stilleben und Werke mit Memento-Mori-Motiven ergänzen die Darstellungen aus dem reichhaltigen Fundus der bildenden Kunst.

Neben dem Bereich des Wissens und der vielen neuen Erkenntnisse wird der christliche Glaube differenziert dargestellt. Katholischer Barock steht nach wie vor für Sinnenfreudigkeit, Öffentlichkeit und Sichtbarkeit, nicht zuletzt in Gestalt von Prozessionen. Dagegen präsentiert sich das protestantische Pendant eher individualfromm. 

Der geometrische Grundzug des Zeitalters zeigt sich besonders in der reißbrettförmigen Anlage vieler Städte. Mannheim dient als Beispiel. Noch heute ist der Besucher verwundert, Angaben über bestimmte Orte in Planquadraten zu finden. Viele Gärten der damaligen Zeit entsprechen bestimmten Proportionen, ebenso soll der Staat nach rationalistischen Vorgaben strukturiert sein.

Der Gang von einem Themenbereich zum anderen wird für den Besucher so angenehm wie möglich gestaltet. Er kann sich über bereitgestellte Kopfhörer zentrale Musikstücke der Epoche anhören – und sie auf CD gleich an der Kasse erwerben.

Auch im letzten Themenkreis werden die Gegensätze lebendig: Rauschende Feste gelten genauso als eines der Charakteristika des 17. und 18. Jahrhunderts wie die stetigen Verweise auf die Eitelkeiten und die Vergänglichkeit des Lebens. 

Am Ende der Ausstellung lassen sich über einen Bildschirm Szenen eines Musiktheater-Stückes verfolgen: „Semele Walk“ von Ludger Engels mit Couture von Vivienne Westwood und Musik von Georg Friedrich Händel. Es handelt sich dabei um eine ekstatische Barock-Prunk-Performance des antiken Mythos. Zentrale Anliegen der Barock-Kultur werden in neuem Gewand gezeigt und einem zeitgenössischen Publikum nähergebracht.

Die Mannheimer Ausstellung erfüllt alle Erwartungen: Eine größere Zahl von Artefakten aus allen Lebensbereichen belegt die wirtschaftlichen, medizinischen, wissenschaftlichen und kulturellen Innovationen eindringlich. Die eingangs gestellte Frage „Nur schöner Schein?“ kann guten Gewissens verneint werden.

Die Ausstellung „Barock – Nur schöner Schein?“ ist noch bis zum 19. Februar in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Zeughaus C5, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 0621 /  2 93 31 50

Der Katalog mit 232 Seiten und 165 Farbabbildungen kostet 34,95 Euro.

 www.barock2016.de