© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Träume und Alpträume der Vernunft
Dialektik der Aufklärung: Von „Menschereyen“ über die Präimplantationsdiagnostik zur Genchirurgie
Dieter Menke

Eine unter Kunsthistorikern umstrittene Auslegung von Francisco de Goyas „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (1799) verkürzt den Titel der Radierung auf die Warnung, der Traum von einer perfekten rationalen Weltordnung werde in der Apokalypse münden, von der Auschwitz und die Atombombe nur Vorstufen seien. Genau wie die Französische Revolution, die im Namen der „Göttin Vernunft“ in totalitären Terror abglitt, und auf deren blutigen Verlauf sich das düstere Bild des Spaniers beziehe.

Selbstgestaltung des Menschen möglich?

Ob Goya tatsächlich diese „Dialektik der Aufklärung“ illustriert hat, mag fragwürdig bleiben. Den politischen Glücksversprechen rationalistischer Gesellschaftsreformer des 18. Jahrhunderts, seinen Zeitgenossen, zu mißtrauen, dazu hätte der 1746 geborene Künstler freilich einigen Anlaß gehabt. Wenn er, wie die Bochumer Historikerin Maren Lorenz dies jetzt tut, lange vor 1789 Notiz von den vielen aufklärerischen Magazinen und dickleibigen Traktaten zur „Medizinalpolicey“ genommen hätte, in denen Juristen, Ökonomen und Mediziner Konzepte zur „Verbesserung des Menschengeschlechts“ präsentierten (Info Ruhr-Universität Bochum, 1/16). 

Dabei ging es nicht um Pädagogik, das klassische aufklärerische Mittel der Wahl, um Menschen in Vernunftwesen zu verwandeln, sondern ungleich zupackender um „Menschenzucht ohne Gentechnik“, wie es Lorenz ausdrückt. Erste Ergebnisse ihrer Forschungen über diese frühneuzeitlichen Bio-Diskurse belegen, daß nicht nur quantitative Aspekte eine Rolle spielten. Neben der Vermehrung der Bevölkerung rieten Mediziner vor allem zur Verbesserung ihrer „Qualität“. So empfahlen sie ihren jeweiligen Regierungen die Ehe auf Probe, Zwangsscheidung bei Kinderlosen und Ledigensteuern sowie die Abschaffung des Zölibats, um „körperlich und geistig fitte Männer“ zu rekrutieren, die im Kirchendienst nur „verschwendet“ würden. 

In dieser von „Ikonen der Aufklärung“ befeuerten Politikberatung über „minderes Menschenmaterial“, über die nach dem Muster von „Stutereyen“ und „Schäfereyen“ einzurichtenden „Menschereyen“, öffentlichen Häusern für dort zu kasernierende ledige Frauen über 25 Jahre, die der Staat gesunden Männern zwecks Fortpflanzung zur Verfügung stellen sollte, über Probleme, welche Paarungen optimal intelligenten Nachwuchs verbürgen, oder wie man „krüppelhafte Ehestandsfrüchte irgendwie loswerden“ könne, will Lorenz Antizipationen der naturwissenschaftlich-technizistisch inspirierten, totalitären Sozialutopien des 20. Jahrhunderts erkennen.

Von den „Menscheyeren“ führe ein gerader Weg ebenso zu den von „Zuchtideen“ diktierten, angeblich arbeitsscheue Ethnien aussperrenden US-Einwanderungsgesetzen wie zu den Lebensborn-Heimen, in denen SS-Männer schätzungsweise 20.000 Kinder mit „Arierinnen“ zeugten. Hier bleibt Lorenz jedoch nicht stehen, da sie den Bogen bis zur aktuellen Auseinandersetzung über die „Pränataldiagnostik“ schlägt.

„Wir sind mittendrin in der Diskussion um Menschenzucht, die erst so richtig Fahrt aufzunehmen scheint“, glaubt die auch „Geschlechtergeschichte“ lehrende Professorin. Und wieder, wie seit 250 Jahren, dominiere die „Machbarkeit“, kümmere man sich wenig um Technologiefolgenabschätzung bei der nun gentechnisch perfektionierten Menschenzüchtung, wenig überdies um deren soziale und ethische Implikationen. Diskussionen darüber, was wertes und was unwertes Leben sei, fänden daher nur als „philosophisch-theologische Minderheitendebatte“ statt. Stattdessen bedürfe die Gesellschaft der Expertise von Historikern, um die „revolutionären biomedizinischen Verfahren“ verantwortungsvoll zu meistern. 

Zumindest für die Kontroverse über das Pro und Contra der Präimplantationsdiagnostik (PID) trifft Lorenz’ kulturpessimistische Einschätzung zum unterstellten Durchmarsch der „Macher“ und der eine „riesige Geldmaschinerie“ bedienenden „Pharmalobby“ offensichtlich nicht zu. Um die Frage, ob man einen Embryo auf Erbkrankheiten oder Chromosomenanomalien untersuchen darf, um dann zu entscheiden, ihn in eine Gebärmutter einzupflanzen, ist lange gerungen worden (JF 51/11). Mit gesetzgeberisch harten Konsequenzen: Das 2011 novellierte Embryonenschutzgesetz erlaubt PID nur, wenn aufgrund der genetischen Disposition der Eltern für das Kind ein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erkrankung droht.

Die „molekulare Schere“ provoziert ethische Fragen

Inzwischen sind in Deutschland elf Zentren zugelassen, die PID durchführen, wenn das Verfahren zuvor von einer der fünf Ethikkommissionen geprüft und genehmigt worden ist. Zu dem von Kritikern prophezeiten „Einstieg in die Eugenik“ ist es daher wegen dieser strengen Regulierung nicht gekommen. Eher habe sich Normalität eingestellt, wie der Reproduktionsmediziner Georg Griesinger vom Universitären Kinderwunschzentrum in Lübeck signalisiert (Deutsches Ärzteblatt, 33-34/16).

Die von ihm publizierte Übersicht zu PID im ersten Jahr nach Konstituierung der Ethik-Kommissionen (2014) bestätigt sein Urteil über den undramatischen Alltag bei diesem „harmlosen Verfahren“. 142 Anfragen zu gendiagnostischen Untersuchungen seien bei den PID-Zentren in Hamburg und Lübeck eingegangen, 34 positive Voten seien erteilt, vier Kinder geboren worden. Bei den zukünftig zu erwartenden 200 bis 400 Untersuchungen jährlich werde das Geschehen relativ überschaubar bleiben. Was nicht heißt, daß sich mit neuen Technologien eine klinisch reine, „schöne neue Welt“ auftäte. Dies weise auch ein von Berliner Gynäkologen veröffentlichter Report zum „Aktuellen Stand der Reproduktionsmedizin“ mit Schwerpunkt auf der seit 1978 etablierten, bis heute mit hohen Risiken für Mütter und Schwangerschaftsverlauf verknüpften Methode außerkörperlicher Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) aus (Zeitschrift für medizinische Ethik, 2/16). 

Ob sich nämlich Humanmediziner demnächst ebenso gelassen wie Griesinger zum 2011 von Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna an Abwehrmechanismen von Bakterien erforschten, genchirurgisch einsetzbaren Crispr/Cas-Verfahren (JF 3/16) äußern, ist zu bezweifeln. Was manche als Entdeckung des 21. Jahrhunderts, als nahen Sieg über alle Erbkrankheiten feiern, die mit bislang unerreichter Präzision, mittels einer „molekularen Schere“ vorgenommene Veränderung einer erbbiologisch „unerwünschten“ Gensequenz, provoziert schwer zu konternde ethische Einwände.

Nicht allein krankheitsverursachende Genmutationen wären mit Crispr/Cas zu korrigieren, sondern es bietet eine Option auf „komplett künstlich geschaffenes Leben“, warnt Eva Richter-Kuhlmann, politische Redakteurin beim Ärzteblatt. Für viele Kritiker ein „Alptraum der Vernunft“. Im jüngsten Streit über ein deswegen für die Genchirurgie am menschlichen Embryo zu verhängendes Forschungsmoratorium sind sich Gegner und Befürworter daher nur in einem Punkt einig: von hinreichender Sicherheit für die Anwendung zu Reproduktionszwecken sei die Crispr/Cas-Technologie noch weit entfernt.