© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Jäger unter Beschuß
Fehler im Fall Amri: Nordrhein-Westfalens Innenminister ist reif für den Rücktritt
Peter Möller

Plötzlich haben die Opfer des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz ein Gesicht. Nachdem sich Politik und Medien zunächst auf den aus Tunesien stammenden Islamisten Anis Amri konzentriert hatten, brachten die Medien in den vergangenen Tagen gleich mehrere Geschichten über die Hinterbliebenen der 12 Todesopfer des vorweihnachtlichen LKW-Attentats – darunter die eines fünf Jahre alten Jungen, der bei dem Anschlag an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche seine Mutter verloren hat. Diese Akzentverschiebung in der Öffentlichkeit geht einher mit einer geographischen Verlagerung bei der Suche nach den politisch Verantwortlichen für die unübersehbaren Fehler der deutschen Behörden im Vorfeld des Anschlags. Der Schwerpunkt liegt dabei mittlerweile nicht mehr an der Spree, sondern am Rhein. 

Im Fokus der Kritik: der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). Denn in den vergangenen Tagen häuften sich die Hinweise, daß die Behörden in Nordrhein-Westfalen maßgeblich dafür verantwortlich waren, daß sich Amri, der im Sommer 2015 mit der Flüchtlingswelle aus Italien in die Bundesrepublik gekommen war, weiterhin frei in Deutschland bewegen konnte, obwohl er von den Sicherheitsbehörden längst als Gefährder eingestuft worden war. Im März 2016 heißt es in der entsprechenden Datei der Sicherheitsbehörden über Amri: Der Verdächtige werbe im gesamten Bundesgebiet „offensiv bei anderen Personen darum, gemeinsam mit ihm islamistisch motivierte Anschläge zu begehen“. Es sei davon auszugehen, daß Amri seine Anschlagsplanungen „ausdauernd und langfristig“ verfolgen werde.

 In der vergangenen Woche mußte Jäger bei der Beantwortung einer Anfrage der CDU-Fraktion im Düsseldorfer Landtag zudem unfreiwillig einräumen, daß sich Amri noch häufiger als bislang bekannt in NRW aufgehalten hatte und nicht, wie zunächst angenommen, seit Februar 2016 durchgängig in Berlin. Noch nach dem Attentat, bevor er sich nach Italien absetzte, war er in der Nähe seiner alten Unterkunft im nordrhein-westfälischen Emmerich gesehen worden.

„Amri wurde falsch eingeschätzt“

Jäger, der seit den Ereignissen der Silvesternacht 2015 in Köln unter besonderer Beobachtung steht, sieht sich mittlerweile Rücktrittsforderungen der Opposition aus Union, FDP und sogar der Piratenpartei ausgesetzt. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sah sich daher am Wochenende veranlaßt, ihren angezählten Minister demonstrativ in Schutz zu nehmen. „Warum sollte er nicht mehr im Amt sein?“, polterte die SPD-Politikerin in einem Interview mit der Bild am Sonntag und sorgte damit nicht nur beim politischen Gegner für Kopfschütteln. Kraft stellte stattdessen ein Sondergutachten zu den möglichen Versäumnissen in Aussicht und versuchte zudem, den Ball auf die Bundesebene zurückzuspielen. „Ich möch­te dar­auf hin­wei­sen, daß im Ge­mein­sa­men Ter­ror­ab­wehr­zen­trum, wo 40 Si­cher­heits­be­hör­den von Bund und Län­dern an einem Tisch sit­zen, alle mehr­mals zu dem Er­geb­nis ge­kom­men sind, daß von Amri keine kon­kre­te Ge­fähr­dung aus­geht“, sagte sie der Zeitung.

Ähnlich hatte Jäger in der vergangenen Woche vor dem Innenausschuß des Landtages argumentiert, wenn auch mit einem Anflug von Selbstkritik. „Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch eingeschätzt“, sagte er. Allerdings seien die im Terrorabwehrzentrum vertretenen Sicherheitsbehörden zu dem Schluß gekommen, daß Amri, dessen Asylantrag im Juni 2016 abgelehnt worden war, keine konkreten Anschlagspläne hatte. CDU und FDP warfen Jäger dagegen vor, es sei nicht einmal versucht worden, Abschiebehaft für den Tunesier anzuordnen oder zu prüfen, ob Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr verhängt werden könne. Jäger argumentierte dagegen, bei der Überwachung und Kontrolle von Amri seien die Behörden bis an die „Grenze des Rechtsstaats“ gegangen. Gefährder könnten nicht vorsorglich in Abschiebehaft genommen werden.

Doch auch mit der Abschiebung auf dem regulären Weg hatten es die Behörden in NRW offenbar nicht besonders eilig. Anis Amri war im Abschiebeverfahren trotz seiner Gefährlichkeit offenbar ein ganz normaler abgelehnter Asylbewerber ohne Ausweis, für den Paßersatzpapiere benötigt werden. Von diesen Fällen gibt es in Deutschland derzeit Hunderte.

Wie stark mittlerweile auch Ministerpräsidentin Kraft knapp vier Monate vor der Landtagswahl unter Druck geraten ist, zeigte sich am Montag. Nach der wachsenden Kritik an ihrem Interview mit der Bild am Sonntag kündigte die Ministerpräsidentin überraschend für Mittwoch eine Regierungserklärung zum Fall Amri an. Es galt Anfang der Woche in Düsseldorf zwar als unwahrscheinlich, daß Kraft einen Nachfolger für Innenminister Jäger verkünden könnte. Doch schon jetzt scheint sicher, daß der Berliner Terroranschlag und die Diskussion um die innere Sicherheit den Wahlkampf an Rhein und Ruhr entscheidend prägen werden. Da paßt es ins Bild, daß am Wochenende im Zusammenhang mit einem möglicherweise in Wien geplanten islamistischen Anschlag ein Verdächtiger ausgerechnet im nordrhein-westfälischen Neuss verhaftet wurde.