© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

„Es gab kein Schweigekartell“
Diskussionsveranstaltung: Welche Folgen hatten die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015?
Gernot Facius

Die Frage ist noch nicht erledigt: Markierte die skandalöse Kölner Silvesternacht 2015 mit ihren sexuellen Übergriffen das Ende der „Willkommenskultur“? Die Domstadt kämpft bis heute um ihr Selbstbild als tolerante Metropole am Rhein. Und auch die Medien haben noch immer zu kämpfen: gegen den Eindruck, ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt zu haben. 

Peter Pauls, Ex-Chefredakteur und nun Chefautor des Kölner Stadt-Anzeigers, rekapitulierte auf Einladung der Bundeszenrale für politische Bildung (BpB) die „unheimliche schnelle Dynamik“ der Ereignisse. Kein Journalist war vor Ort; alles, was die Presse an Informationen erhielt, basierte auf Angaben der Poliizei, die noch am Neujahrsmorgen verkündet hatte „Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“ – und später auf Mutmaßungen bei Facebook und Co. Mitunter seien gefährliche Mythen verbreitet worden. Bis zum 3. Januar gab es „nichts Vernünftiges“ (Pauls). Man habe gegen die Polizei und deren widersprüchliche Meldungen recherchieren müssen, ein „unerhörter Vorgang“. Kurzum, die Polizei habe versagt. Und auf diesen Nenner ließ sich das Ergebnis der Diskussion in der Kölner Akademie der Künste der Welt bringen. 

„Mit heißer Nadel gestrickt“

Daß es ein „Schweigekartell“ gegeben habe – dieser Vorwurf war vom ehemaligen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) erhoben worden –, nannte der Stadt-Anzeiger-Autor schlicht „Quatsch“. So hatte er sich bereits im Januar 2016 im Deutschlandfunk geäußert: „Alle Regionalzeitungen, die ich kenne, haben berichtet. Wir haben am Montag (nach Silvester) bereits eine Vielzahl von Anfragen beantwortet. Alle Zeitungen, denen das dpa-Material nicht reichte, haben sich bei uns gemeldet, und das waren sehr viele.“

Bis Anfang Dezember 2016 hat die Staatsanwaltschaft 333 Beschuldigte ermittelt. Davon waren 109 Asylsuchende, 53 hielten sich illegal in Deutschland auf, in 80 Fällen konnte der Aufenthaltsort nicht herausgefunden werden, nur 44 Verdächtige besitzen einen legalen Aufenthaltsstatus als Nicht-EU-Bürger. Personen aus Algerien und Marokko bildeten die Mehrheit der Tatverdächtigen. 

Waren die Übergriffe geplant? Nein, antwortet der von dem Journalisten Christian Werthschulte (Kölner Stadtrevue) zitierte Kriminaldirektor Rudolf Egg, der mit einem Gutachten beauftragt war (JF 42/16). Die Polizei sei personell überfordert gewesen und habe die Aussagen von Frauen nicht ernst genommen. „Der Fokus des Untersuchungsausschusses auf das Versagen der Behörden bildet damit einen Gegensatz zu den Debatten der ersten Monate nach der Silvesternacht, in denen die Frage nach der Ethnizität der Täter in den Vordergrund gerückt war“, resümierte der Diskussionsteilnehmer Werthschulte. Die Täter, bedauerte er auch in seinem Beitrag für die BpB-Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte, würden über ihre Herkunft charakterisiert, ihre aktuellen Lebensumstände zwischen Kleinkriminalität und Flüchtlingsunterkunft nicht thematisiert: „So werden die Gründe für die Übergriffe geographisch in die Herkunftsländer verschoben und kulturalisiert.“ Werthschulte sieht die Debatte davon gekennzeichnet, daß die Silvester-Übergriffe, die „Schande von Köln“, wie Kommentatoren titelten, „in bereits bestehende Interpretationsmuster oder politische Initiativen überführt werden, die ihren Anfang vor Silvester genommen haben“. Sein Fazit: „Nach Köln“ sei mehr beim alten geblieben, als es zuerst den Anschein hatte.

Silvester 2015: eine Nacht und viele Schatten. Danach wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. In der Lokalpresse nannte Oberbürgermeisterin Henriette Reker den Silvesterabend 2016 einen „Wendepunkt“. Die Polizei habe dafür gesorgt, daß die Stadt wieder so erlebt werden könne, „wie sie ist“, und gezeigt, „daß hier kein Platz für Übergriffe ist“. 

Doch genau darüber gab es eine hitzige Debatte – über „Racial Profiling“, eine – angebliche – ethnische Diskriminierung, über saloppe Polizeisprache („Nafri“) und die Verhältnismäßigkeit polizeilichen Vorgehens. Generalverdacht gegen Nordafrikaner? Das wird von manchen in der Diskussion behauptet. Auch die Buchautorin und Feministin Mithu M. Sanyal, Tochter einer Polin und eines Inders, hat sich stigmatisiert gefühlt. Plötzlich, berichtete sie als Teilnehmerin der BpB-Veranstaltung, habe sie überall ihren Ausweis vorzeigen müssen – ein „flaues Gefühl“. Allerdings warnte sie auch vor Verallgemeinerungen („die bösen Moslems“, „die bösen Rassisten“). Damit löse man die Probleme nicht. Ihr Rat: Statt Kontrollen im nachhinein an vermeintlichen Tätern lieber präventive Vorabeit und Gespräche.

Inzwischen fokussiert sich die Debatte auf etwas anderes: auf Vorschläge zur Verbesserung der Domumgebung und auf die Einrichtung einer Schutzzone um die Kathedrale. Im Dezember 2016 wurde eine neue Stadtordnung veranbschiedet. Straßenmusik unterliegt nun strengeren Auflagen, das Betteln soll erschwert werden – obwohl bei den Übergriffen weder Straßenmusikanten noch Bettler eine Rolle gespielt hatten. Für den Journalisten Werthschulte bestätigt sich damit eine Beobachtung des ehemaligen Polizeidirektors Udo Behrendes: Die teilweise mit „heißer Nadel“ gestrickten Positionspapiere und Handlungskonzepte gingen thematisch vielfach „über den eigentlichen Bezugsrahmen der Erkenntnisse der Silvesternacht hinaus“.