© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Geheimnis Gabriel
Christian Vollradt

Erst an diesem Sonntag sollte das Geheimnis gelüftet werden: Wird Sigmar Gabriel SPD-Kanzlerkandidat? Spötter meinten schon seit längerem, das sei eigentlich egal; denn Kanzler werde der Parteivorsitzende aller Wahrscheinlichkeit nach so oder so nicht. 

Doch schlechte Umfrageergebnisse für die Partei und niedrige Sympathiewerte für Gabriel hin oder her: Die meisten Genossen rechneten damit, daß am 29. Januar ihr Vorsitzender auf den Schild gehoben würde. 2013 hatte er auf die Kanzlerkandidatur schon einmal verzichtet. Würde er erneut kneifen, wäre es der Anfang vom Ende seiner Karriere an der Spitze der Partei. 

Hätte man ahnen können, daß Gabriel selbst den parteiamtlichen Fahrplan über den Haufen werfen würde? Und das, nachdem er es war, der mit seinem Zaudern die Spekulationen erst befeuert hatte? Ja, hätte man. Etwa durch die Lektüre der kürzlich erschienenen Biographie von Christoph Hickmann und Daniel Friedrich Sturm. Die beiden Journalisten – Hauptstadtkorrespondent für die Süddeutsche der eine, für die Welt der andere – haben den SPD-Chef und Wirtschaftsminister lange Zeit aus der Nähe beobachtet, vor allem aber auch mit vielen Weggefährten gesprochen. Dabei kommt zum Vorschein, daß manche Auffälligkeit von heute tatsächlich zu Gabriels Charaktereigenschaften zählt. „Seine Schwäche ist seine Wankelmütigkeit“, konstatiert etwa sein ehemaliger Linguistikdozent. Schon im Studium habe er ihm gesagt. „Sigmar, halt doch mal deine Linie.“ Und ein Landeskorrespondent aus Hannover erinnert sich an den Spottbegriff des „neuen Gabriel-Plans“, der unter Journalisten kursierte, als der heutige Vizekanzler in den neunziger Jahren Karriere in Niedersachsen machte. Man habe ja gewußt, daß Gabriels Pläne nie lange Bestand hätten.  

Schon damals sei Gabriel in der Lage gewesen, seine politischen Positionen je nach Bedarf um 180 Grad zu drehen. So hatte er noch als Landtagsabgeordneter die Reduzierung der Kabinettsposten gefordert, um als Ministerpräsident als erstes ein zusätzliches Ministerium zu schaffen. Als einen „Tagespolitiker“, der Schlagzeilen produziere, charakterisieren ihn die Autoren. Altkanzler Gerhard Schröder, einst Gabriels politischer Ziehvater, wählte bei der Buchvorstellung einen anderen Begriff: den des „demokratischen Populisten“. So einer sei in der jetzigen Situation nötiger denn je. Als Stilmittel, um „komplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren“ – gegen die „Populisten von links und rechts“. 

Daß Gabriel volkstümlich sein kann, halten ihm auch seine Biographen zugute. Ihr Resümee fällt aber nüchterner aus: Vieles, was Gabriel könne, werde derzeit gebraucht. Was man nicht braucht: „den Sigmar Gabriel, der er die meiste Zeit seines politischen Lebens gewesen ist.“ Der sieht das nun offenbar genauso.

Christoph Hickmann, Daniel Friedrich Sturm: Sigmar Gabriel.Patron und Provokateur. dtv, München 2016, gebunden, 320 Seiten, 24 Euro