© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Die Attentäter wurden „erst im Westen radikalisiert“
Tunesien: Kein Interesse daran, die Landeskinder zurückzuholen / Hunderttausende wollen ihr Glück in Europa suchen
Marc Zoellner

Tausende von Bürgern hatten sich Mitte Januar versammelt, um gegen die Abschiebepolitik der Bundesregierung zu protestieren. „Angela Merkel“, appellierten die Protestler auf großen Bannern. „Tunesien ist nicht die abfall von Deutschland!“ so die Demonstranten in Tunis. Berlin solle endlich aufhören, illegal eingereiste Tunesier – und besonders jene, die in Deutschland bereits straffällig geworden seien oder sich radikalisiert hätten – zurück nach Tunesien abzuschieben.

Die Demonstranten fürchten nicht nur die Rückkehrer; sondern ebenso, daß deren Ideologie im verarmten, ohnehin schon von islamistischen Terroristen wirtschaftlich destabilisierten nordafrikanischen Land auf fruchtbaren Boden fallen könnte.

Spätestens seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings gilt Tunesien als internationaler Schwerpunkt des Menschenschmuggels und aufgrund seiner geographischen Nähe als bedeutendes Transitland für Afrikaner und Westasiaten – insbesondere für ledige junge Männer –, um mit dem Boot illegal nach Europa überzusetzen. Allein im vergangenen Jahr fischte die italienische Marine, unterstützt von Küstenwache und freiwilligen Helfern, rund 181.000 Menschen aus dem Mittelmeer. Mit 35.000 Personen befand sich darunter auch eine Vielzahl an Tunesiern selbst. Denn der Wunsch, das eigene Land in Richtung Europa zu verlassen, ist unter tunesischen Jugendlichen weiter verbreitet denn je.

Eine Studie des Tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) belegte dies Ende Dezember 2016 erstmalig mit konkretem Zahlenmaterial: Von den befragten 1.168 Jugendlichen zwischen 18 und 34 Jahren, so das Fazit der Studie, bezeugten 45,2 Prozent ihren Wunsch, nach Europa auszuwandern. Die desolate Lebenssituation in Tunesien, aber auch die Angst vor Terrorismus seien hierbei Hauptgründe der Motivation, so die Forscher. Jeder vierte Befragte gab zudem freimütig an, selbst Menschenschmuggler in seiner Nachbarschaft zu kennen. Jeder siebte hatte diese sogar schon kontaktiert.

Daß sich unter den Wirtschaftsflüchtlingen jedoch auch Terroristen befänden, bestreitet Beji Caid Essebsi vehement. „Tunesien war noch nie ein Terroristen exportierender Staat“, kritisierte der tunesische Präsident in einem Interview mit der Nachrichtenagentur TAP europäische Vorwürfe an sein Land. Terroristen wie der Attentäter von Nizza oder auch Anis Amri in Berlin hätten „Tunesien aus wirtschaftlichen Gründen verlassen“ und wurden erst „in Europa radikalisiert, wo sie auch die Unterstützung terroristischer Gruppen erhielten“. 

Ganz so einfach ist es nicht: Denn obwohl es das kleinste Land Nordafrikas ist, stammt mit bis zu 5.000 Kämpfern das größte ausländische Kontingent an Dschihadisten in Syrien und im Irak aus Tunesien. Rückkehrer bereiten der Regierung ohnehin schon große Sorge. Sich zusätzlich noch extra mit radikalisierten Heimkehrern aus Europa befassen zu müssen möchte das überstrapazierte Justizsystem vermeiden – allein schon aus Kostengründen.