© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Emotionale Nähe
Holocaust-Mahnmal: Erinnerung an den Judenmord und zugleich Herrschaftsarchitektur
Thorsten Hinz

Regierungssprecher Steffen Seibert zufolge repräsentiert das Holocaust-Mahnmal in Berlin „den Kern unseres Selbstverständnisses“. An der Aussage ist soviel richtig, daß das riesige Stelenfeld der Ausdruck und das Ergebnis einer langfristig betriebenen Geschichtspolitik ist und 1999 durch eine parlamentarische Entscheidung besiegelt wurde. Die jüngsten Äußerungen von Politikern, Journalisten, Verbandsvertretern und Politikwissenschaftlern lassen erkennen, daß die Funktions- und Deutungseliten ihr Selbstverständnis tatsächlich damit verknüpfen.

In welchem Maße diese Haltung in der Breite der Bevölkerung geteilt wird, ist unsicher. Als sicher darf hingegen gelten, daß der Mord an den europäischen Juden allgemein als ein besonders grausames und einschneidendes Ereignis in der deutschen Geschichte empfunden wird. Dafür brauchte es dieses  Denkmal jedoch nicht, das im Schnittpunkt höchster staatlicher Institutionen und Nationalsymbole plaziert wurde.

Aus Sicht des verstorbenen Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein war das Denkmal „gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet“. Für das Projekt machte er „die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand“ sowie Kanzler Kohl verantwortlich, der vor Israel „eingeknickt“ sei. Sollte es derartige Einflüsse gegeben haben, wären sie doch wirkungslos geblieben, wenn in der deutschen Gesellschaft keine innere Bereitschaft für das Denkmal vorhanden gewesen wäre. 

Die Anfänge der Geschichtspolitik liegen in den späten 1950er Jahren, als der Kalte Krieg, der in Deutschland am kältesten war, zum atomaren Poker zwischen den USA und der Sowjetunion eskalierte und sich herausstellte, daß die spezifischen Interessen der Bundesrepublik und die strategischen Interessen der Amerikaner nicht mehr deckungsgleich waren. Auf diese politische Herausforderung antwortete die bundesdeutsche Gesellschaft „mit einem panischen Ausbruch ins Irrationale (...), genannt ‘Bewältigung der Vergangenheit’“ (Caspar von Schrenck-Notzing). Diese verfestigte, verstetigte und institutionalisierte sich zu einer staatlichen Geschichtspolitik, die sich so gut wie vollständig auf das Dritte Reich und den Judenmord fokussierte.

Anders als von ihren Vertretern behauptet, hat diese Erinnerungspolitik keine befreiende Kraft entfaltet. Dafür hätte das Erinnern sich mit dem Heilschlaf des Vergessens verbinden müssen. Normalerweise nimmt die emotionale Intensität mit der zeitlichen Distanz zum auslösenden Ereignis ab, und das analytische, wissenschaftliche Interesse daran überwiegt. Durch seine Kontextualisierung, das Herausarbeiten von Querverbindungen, Kausalitäten und durch historische Vergleiche wird das Ereignis rationalisiert und ihm seine Überwältigungsmacht genommen: Ein Vorgang, der als Historisierung bezeichnet, in diesem Fall aber durch die Geschichtspolitik blockiert wird, die auf die permanente Regenerierung der emotionalen Nähe abzielt.

 Auf die unerwartete Wiedervereinigung reagierte die bundesdeutsche Gesellschaft mit einem zweiten irrationalen Ausbruch. Weil die Aussicht auf die politische Souveränität und Selbstverantwortung sie überforderte und ängstigte, suchte sie Halt im „Kampf gegen Rechts“ und in der intensivierten Erforschung „deutscher Schuld“. Ein Höhepunkt wurde 1996 während der Deutschland-Tournee des US-Historikers Daniel J. Goldhagen erreicht, der in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ den Holocaust als ein kollektives, genetisch programmiertes Projekt der Deutschen beschrieben hatte. Für diese These wurde er vom Publikum als neuer Moses am Berge Sinai gefeiert, der den Deutschen seine Gesetzestafeln überreicht. Es wäre interessant zu ermitteln, wie viele der jungen Studenten, die damals gläubig an seinen Lippen hingen, heute in Redaktionen, Parteigremien und an Universitäten tätig sind. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung über das Holocaust-Mahnmal.

Die Identität, die sich auf diese Geschichtspolitik gründet, ist zwar eine Negatividentät, aber auch die vermittelt denen, die sie annehmen, Gewißheit, Stärke, Zusammenhalt. Aus der Überzeugung, durch die Erkenntnis eines absolut Bösen in der deutschen Geschichte diese besser und tiefer begriffen zu haben als alle anderen, erwächst ein neues Gefühl der Auserwähltheit und des Anspruchs auf Macht. Insofern stellt das Berliner Mahnmal eine Herrschaftsarchitektur dar.

Für ihre in der Negativ-identät praktizierte Selbsterniedrigung und masochistische Moral werden die Betreffenden durch öffentliches Prestige, Zuwendungen oder Karrieren belohnt. Die Kompensation wird vervollständigt durch den Sadismus gegen diejenigen, die diese Haltung und Überzeugung nicht teilen. Er drückt sich aus in Losungen wie „Vertreibt die Vertriebenen“ oder „Bomber Harris, do it again“ sowie in Pressionen gegen Andersdenkende, die mit der Totschlagformel „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“, legitimiert werden. 

Regierungssprecher Seibert sagte weiter, Deutschland sei nach den Verbrechen der Nazizeit „den Weg der aktiven Erinnerungskultur“ gegangen und sei damit „zu einem weltweit geachteten freien demokratischen Staat“ geworden. In der Tat waren die Folgen des emotionalen Ausnahmezustandes für das Ausland lange Zeit bequem und Deutschlands Zahlungswilligkeit legendär gewesen. Die Migrationskrise hat unterdessen zu kritischeren Urteilen geführt, die vom „gefühlsgeleiteten Hippie-Staat“ bis zum „moralischen Imperialismus“ reichen.

Das Mahnmal wird von den meisten Besuchern in der für Herrschaftsarchitektur üblichen Weise behandelt: als Banalität. Es ist das Ziel von Spaziergängern, die ein Picknick einlegen, Turn- und Sprungübungen werden absolviert, Selfies gemacht. Es diente schon als Ort von Besäufnissen, als massenhaftes Urinal und Treffpunkt für schnelle Sex-Dates. Kaum einer läßt von ihm sein Selbstverständnis definieren. Als wichtigste Empfindung nimmt man mit, daß mit einem Land, das im Herzen der Hauptstadt seine Urbanität zu dementieren versucht, irgend etwas nicht stimmt.

Genaueres darüber erfährt man in der aktuellen Tragikomödie „Die Blumen von gestern“ von Chris Kraus. Die Hauptfigur ist der Enkel eines Judenmörders, ein Hysteriker und erfolgreicher Holocaust-Forscher, der seine Umwelt tyrannisiert, indem er überall Nazi-Unrat wittert. Über seine Arbeit ist er impotent geworden, das Ehepaar hat daher ein afrikanisches Mädchen adoptiert. Das Zentralinstitut, an dem er arbeitet, bereitet einen Auschwitz-Kongreß vor. Eine alte jüdische Schauspiel-Diva, die das Lager überlebt hat, soll die Schirmherrschaft übernehmen, weil das die Sponsoren animiert. Die Beflissenheit des Institutsdirektors, der nur das Plansoll des Gedenkens erfüllen will, weckt ungute Erinnerungen in ihr. Schroff unterbricht sie seinen Redestrom: „Sie wären früher ein guter Mann beim SD gewesen.“

Eleganter drückte sich der Schweizer Philosoph Denis de Rougemont in seinen 1949 erschienenen Meditationen über den „Anteil des Teufels“ am geschlagenen Hitler aus: „Der Teufel wollte nicht mehr: er ist entzückt über unser gutes Gewissen. Es ist die weite Pforte, durch die er mit Vorliebe bei uns eintritt, indem er sich unter einem falschen Namen anmelden läßt.“