© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

„Vertrag ohne Grenzen“
„Maastricht“ leitete vor 25 Jahren jene Entwicklung ein, unter der wir heute leiden, kritisiert der Staatsrechtler Dietrich Murswiek
Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, diese Zeitung warnte von Beginn an vor dem Vertrag von  Maastricht. Aus heutiger Sicht, zu Recht?

Dietrich Murswiek: Ja. Kern des Vertrags war die Schaffung der Euro-Währungsunion. Allerdings waren sich die Fachleute einig: Ohne politische Union muß diese scheitern. Nach der „Krönungstheorie“ hätte sie erst krönender Abschluß des Integrationsprozesses sein dürfen. Deshalb hatte Bundeskanzler Kohl auch die Ansicht vertreten: erst die politische Union, dann die Währungsunion. Dann hat er trotzdem zugestimmt. Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen, den die Öffentlichkeit nur deshalb nicht wahrnimmt, weil die EZB ihn mit unvorstellbaren Bergen frisch gedruckten Geldes überschüttet. Pro Monat produziert die EZB zur Zeit aus dem Nichts heraus achtzig Milliarden Euro. Stapelt man diesen Betrag in frisch gedruckten Hundert-Euro-Scheinen, ergibt das vierhundert Türme von der Höhe des Frankfurter EZB-Hochhauses mit seinen 201 Metern – jeden Monat! Damit kauft die EZB vor allem Staatsanleihen der Eurostaaten und bewahrt auf diese Weise völlig überschuldete Staaten wie Italien vor dem Kollaps – auf Kosten der Sparer, Rentner, Pensionäre, die dies in Form von Geldentwertung werden bezahlen müssen. 

Überdeckt diese Fokussierung auf den Euro allerdings nicht andere problematische Aspekte des Vertrages? 

Murswiek: Der Vertrag hat keineswegs nur problematische Aspekte. Die europäische Integration war 1992 an einen Punkt gelangt, an dem es durchaus angebracht schien, den in verschiedenen Verträgen organisierten europäischen Gemeinschaften sowie der politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ein gemeinsames rechtliches Dach zu geben und in einer Europäischen Union auch symbolisch zusammenzufassen. Zudem wollte man angesichts der Globalisierung mit den großen Wirtschaftsräumen mithalten und das Gewicht Europas im weltweiten Wettbewerb erhöhen. Dazu bedurfte es erweiterter Kompetenzen und verbesserter Entscheidungsstrukturen. Allerdings ging der Vertrag dabei zu weit und gab der EU auch Kompetenzen, die – etwa in kulturellen Fragen – besser bei den Mitgliedstaaten geblieben wären. Problematisch sind vor allem jene Bestimmungen, die eine immer weiter fortschreitende Europäisierung und Zentralisierung geradezu zum Selbstzweck erheben. Die mit „Maastricht“ gegründete Europäische Union sollte die Organisation eines ständig voranschreitenden Integrationsprozesses werden. Im Vertrag war also eine Kompetenzausdehnungsdynamik angelegt, die keine Grenzen kennt, weil sie nicht auf ein bestimmtes Ziel hinsteuert – also auf eine bestimmte Vision des Verhältnisses von EU und Mitgliedstaaten.

Allerdings würden sich viele seiner Kritiker in der Euro-Frage heute die Gültigkeit des Vertrages zurückwünschen.War er also vielleicht doch nicht so schlecht?

Murswiek: Der Vertrag ist in der Tat viel besser als seine Anwendung durch die Politiker. So hat er für das Kernproblem einer Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eine im Prinzip vernünftige Lösung: Konvergenz- und Stabilitätskriterien (etwa Haushaltsdefizit nicht höher als drei Prozent, Staatsverschuldung nicht höher als sechzig Prozent des BIP) – diese sollten dafür sorgen, daß nicht alle EU-Staaten in den Euro aufgenommen werden, sondern nur jene mit solidem Haushalt. Und sie wurden verpflichtet, auch nach Beitritt die Kriterien zu beachten. Der Vertrag sah zudem vor, daß Zentralbanken Staaten nicht finanzieren dürfen und diese für ihre Finanzen selbst verantwortlich sind und weder von EU noch von anderen Mitgliedern Finanzhilfen erhalten dürfen („No-Bailout“). Nur war die Erwartung, man würde sich daran halten, wohl von vornherein unrealistisch.

Wie hätte sich die Eurokrise entwickelt, wäre der Vertrag eingehalten worden?

Murswiek: Es wäre vermutlich nicht zur Eurokrise gekommen. Denn Griechenland und Italien wären nicht in der Eurozone, und die Finanzmärkte hätten wohl nicht auf einen Bailout spekuliert. Nachdem es aber 2010 zur Krise kam, hätte man Griechenland nicht „retten“ dürfen, sondern auf eine möglichst geordnete Insolvenz, verbunden mit Austritt aus dem Euro hinarbeiten müssen. Durchgesetzt haben sich die mächtigen Finanzinvestoren. Denn es ist doch klar: Nicht „Griechenland“ wurde gerettet, sondern die Milliarden, die wir Steuerzahler aufbringen mußten, retteten die Großbanken, die in griechische Staatsanleihen investiert hatten. Bei den einfachen Griechen ist von diesem Geld praktisch nichts angekommen, aber griechische Multimillionäre bekamen Zeit, ihr Geld ins Ausland zu bringen. Auch für andere Krisenländer wäre ein Schuldenschnitt, verbunden mit der Rückkehr zur eigenen Währung, die bessere Lösung gewesen. Diese hätten dann die Chance, nach Abwertung ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen, ohne sich der Bevormundung und Überwachung durch die Troika auszusetzen, während die kleiner gewordene Eurozone die Möglichkeit gehabt hätte, dank geltender Regeln als Stabilitätsunion zu gedeihen.

Überzeugt es Sie, wenn verantwortliche Politiker heute sagen, das wäre nicht abzusehen gewesen?

Murswiek: Nein, die Kritiker haben ja alles vorausgesehen. Man lese nur nach, was beispielsweise der Ökonom Joachim Starbatty damals geschrieben hat.

2010 wurde der Vertrag durch die Eurorettung gebrochen – gilt er überhaupt noch? 

Murswiek: Gebrochen wurde mit der „Eurorettung“ das Bailout-Verbot und später durch die EZB das Verbot der monetären Staatsfinanzierung durch die Zentralbanken. Beides wurde aber vom Europäischen Gerichtshof gebilligt. Das Bailout-Verbot wurde dann durch Vertragsänderung beseitigt. Der Vertrag gilt zwar noch. Aber er hat in einem zentralen Punkt einen völlig anderen Charakter bekommen: Die Währungsunion ist zu einer Haftungsunion geworden, in der die Eurostaaten direkt oder indirekt – über Maßnahmen der EZB – für die Folgen unsolider Haushaltspolitik anderer Staaten einzustehen haben. Unsere Politiker hatten uns bei der Abschaffung der D-Mark versprochen, nicht für die Schulden anderer haften zu müssen. Genau das Gegenteil ist jetzt eingetreten. Die mediterranen Staaten haben sich nach Beitritt zum Euro aufgrund der damit verbundenen Senkung der Zinsen, die sie auf ihre Staatsanleihen zahlen mußten, soziale Wohltaten gegönnt, die sie mit Schulden finanzierten, für die der deutsche Steuerzahler jetzt haftet. Und die EZB hat sich selbst – mit Billigung des Europäischen Gerichtshofs – die Kompetenz zugesprochen, klamme Eurostaaten durch Ankauf ihrer Staatsanleihen über Wasser zu halten. Das war im Vertrag nicht vorgesehen, hat aber eine gigantische Risikoumverteilung – zu Lasten der solide wirtschaftenden Staaten und zugunsten der überschuldeten Peripheriestaaten – in Gang gebracht.

Wie konnte „Maastricht“ ohne rechtsstaatliche Sanktionen gebrochen werden?  

Murswiek: Es wird gerne gerühmt, die EU sei eine Rechtsgemeinschaft – das war einmal. Das Recht ist in der EU völlig unter die Räder der Politik geraten. Es wird nur noch instrumental betrachtet. Die EU-Bürokratie setzt sich darüber hinweg, wenn es ihren Interessen dient. Mitunter spielen dabei die Staaten mit – sogar Deutschland hat an der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts mitgewirkt.

„Maastricht“ gebot eine Währungsunion und das Verbot einer Transferunion – was sich widerspricht. War der Vertrag von Beginn an „postfaktisch“?  

Murswiek: Es war unrealistisch, zu glauben, die Stabilitätskriterien würden dauerhaft beachtet werden und die EZB würde so seriös wie die Bundesbank agieren. Aber statt aus der Fehleinschätzung zu lernen, haben die Politiker den falschen Kurs noch bekräftigt: Statt die im Vertrag vorgesehene Eigenverantwortung der Staaten zu stärken, zu der als Gegenstück die Haftung für die Folgen eigener Fehlentscheidungen gehört, haben sie die Gemeinschaftshaftung der „Rettungsschirme“ eingeführt und das als „Solidarität“ gepriesen. Dem haben sie den Fiskalvertrag gegenübergestellt, der neue Pflichten zur Haushalts-„Solidität“ enthält, also diejenigen Regeln verschärft, die bisher schon mißachtet wurden und die – wie wir jetzt sehen – von den Problemstaaten weiter mißachtet werden. Die „Euroretter“ handeln wie ein Autofahrer, der sich verfahren hat, aber statt die Richtung zu ändern, nur das Tempo erhöht.

Die Krise hat viele Europäer in Armut gestürzt, mancher hat die Wohnung verloren, kann sich lebenswichtige Arzneien nicht mehr leisten, manche haben sich umgebracht. Hat „Maastricht“ Leben gekostet? 

Murswiek: So plakativ kann man das nicht sagen. Die Krise hatte verschiedene Ursachen, auch unterschiedliche Ursachen in verschiedenen Krisenstaaten. Vieles beruhte auf leichtfertiger Steigerung der Staatsausgaben und unterlassenen Strukturreformen. Allerdings: Ohne die Währungsunion stünden die Krisenstaaten wirtschaftlich alle besser da.

Kritiker meinen, „Maastricht“ habe damals keine Mehrheit bei den Völkern gehabt, vielmehr sei der Hintergedanke gewesen, von oben Fakten zu schaffen, an die sich die Bürger dann mit der Zeit zu gewöhnen hätten. Ist das plausibel? 

Murswiek: Das „europäische Projekt“ ist von Anfang an ein Elitenprojekt gewesen. Das muß nichts Schlechtes sein. Aber wenn man ernst nimmt, daß alle Staatsgewalt demokratisch legitimiert sein muß, dürfen fundamentale Änderungen der Verfassungsstrukturen nicht vorgenommen werden, ohne das Volk zu fragen. Und um fundamentale Änderungen ging es in „Maastricht“: Die Währungshoheit, die dort auf die EU übertragen wurde, zählt schließlich zu den zentralen Souveränitätsrechten eines Staates. Und zudem sollte die Währungsunion aus Sicht mancher Akteure der „Point of no return“ in Richtung eines EU-Bundesstaates sein. So wird jetzt als angeblich notwendige Fortentwicklung die Schaffung eines EU-Finanzministeriums gefordert.

Welcher Geist beseelt „Maastricht“ also: Ist der Vertag Ausdruck eines „Europas der Bürger und der Demokratie“?

Murswiek: Er atmet den Geist paternalistischer Eliten. Damals haben ja sogar die Grünen gegen den Vertrag geklagt – wegen der Demokratiedefizite der EU.

Also hat „Maastricht“ demokratische Elemente nicht einfach nur verlagert (hin zur EU), sondern die Demokratie geschwächt?

Murswiek: Der Vertrag hat den demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten Kompetenzen entzogen, während die EU selbst nicht hinreichend demokratisch legitimiert war und bis heute nicht ist – eine Schwächung der Demokratie, ja.

1993 entschied das Bundesverfassungsgericht negativ über die Verfassungsbeschwerden gegen den Vertrag. Hat Sie die Argumentation des Gerichts damals überzeugt? 

Murswiek: Das Urteil zeigt verfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EU und verfassungsrechtliche Grenzen für die Entwicklung der europäischen Integration auf. Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den Vertrag ist es aber nicht konsequent. So sagt Karlsruhe, es sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, wenn der EU per Vertrag Kompetenzen übertragen werden, ohne diese hinreichend bestimmt festzulegen. Richtig. Aber der Vertrag enthält viele Unbestimmtheiten, die es den EU-Organen, besonders dem Europäischen Gerichtshof ermöglicht haben, die Kompetenzen der EU weiter auszudehnen, ohne die Staaten und ihre Völker zu fragen. 

Wenn man heute zurückblickt, hat also die weitere Entwicklung die Kläger bestätigt?

Murswiek: In gewisser Hinsicht ja, nehmen Sie etwa die Währungsunion: Das Bundesverfassungsgericht hat darauf abgestellt, daß deren Verwirklichung durch „Maastricht“ nicht endgültig beschlossen sei, sondern von weiteren Schritten abhänge, über die der Bundestag noch zu entscheiden habe. Das war zwar richtig, doch politisch naiv. Denn natürlich gab es politische Zwangsläufigkeiten, denen Deutschland sich nach dem Vertrag nicht mehr entziehen konnte. Aber die Kontrolle politischer Zwangsläufigkeiten überfordert ein Gericht, das ist Sache der politischen  Opposition und der Wähler. Das Bundesverfassungsgericht betonte, daß die Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsunion Grundlage des deutschen Zustimmungsgesetzes sei. Bei der Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion – die Ersetzung der nationalen Währungen durch den Euro – hat dann aber das Bundesverfassungsgericht die Zustimmung Deutschlands nicht gestoppt, obwohl die Konvergenzkriterien von mehreren Staaten nicht erfüllt worden waren. Damit war der Grund für die ständigen Verletzungen der Kriterien gelegt. Italien und Belgien hätten nicht aufgenommen werden dürfen, Griechenland erst recht nicht.

Hat sich das Prinzip von „Maastricht“ – Inhalte, die die Bürger eigentlich so nicht wollen, dennoch zu beschließen, um Fakten zu schaffen – nicht in weiteren EU-Verträgen wiederholt? Was ist angesichts dessen in Zukunft zu erwarten?

Murswiek: In der parlamentarischen Demokratie ist es normal, daß die Parlamentsmehrheit Entscheidungen trifft, für die es in Umfragen keine Mehrheit gibt. Für Entscheidungen solcher Tragweite, wie sie die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU hat, sollte aber ein Volksentscheid verbindlich vorgeschrieben oder zumindest – auf ein Volksbegehren hin – möglich gemacht werden. In Deutschland scheitert das bislang nur an der CDU – die CSU ist dafür, natürlich auch die AfD. SPD und Grüne haben sich sogar schon Anfang der neunziger Jahre für Volksentscheide auf Bundesebene eingesetzt.

Wenn „Maastricht“ kein Einzelfall ist, sondern ein Prinzip, welchen Charakter hat dann folglich die EU? 

Murswiek: Nicht „Maastricht“ ist das Problem. Die EU ist zum Problemfall geworden durch ständige Kompetenzausdehnungen ohne Vertragsänderungen und somit ohne auch nur indirekte Legitimation durch die Völker. Und sie ist zum Problemfall geworden durch ständige Mißachtung des Rechts. Beides führt zu schwerwiegenden Defiziten an demokratischer Legitimation. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung, die Beachtung des Rechts – wie es etwa im Vertrag von Maastricht vereinbart wurde – durchzusetzen, statt die Rechtsbrüche der Kommission und der EZB auch noch zu verteidigen.  






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, der Freiburger Völker- und Verfassungsrechtler und Mitautor des „Bonner Kommentars zum Grundgesetz“ war Prozeßbevollmächtigter mehrerer Verfassungsbeschwerden zum Thema EU und Euro. 2016 erschien sein Buch: „Die Eurokrise vor dem Bundesverfassungsgericht“. Geboren wurde Murswiek 1948 in Hamburg. 

Foto: Unterzeichung des Maastricht-Vertrags 1992 (durch die Außen- und Finanzminister Genscher und Waigel) und Eurokrise heute: „Wider besseres Wissen zugestimmt“

 

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