© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Die kalte Enteignung
Eurokrise: Bei der Währungsunion hat der politische Wille über den wirtschaftlichen Sachverstand gesiegt
Albrecht Rothacher

Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, fragt Mackie Messer in Bertolt Brechts „Dreigroschen­oper“. Mario Draghi, noch bis 2019 Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), wäre demzufolge der größte Bankräuber aller Zeiten. Dabei ist es in der EU allgemein nicht üblich, allzu offensichtlich die eigenen nationalen Interessen zu bedienen. Doch der frühere Präsident der italienischen Nationalbank kennt keine solchen Hemmungen.

Deutschland hat im 19köpfigen EZB-Rat nur eine Stimme, ebenso wie Malta oder Zypern. Bundesbankpräsident Jens Weidmann ist daher in der Minderheit gegenüber den Weichwährungsländern. 1973 kostete eine D-Mark weniger als 200 italienische Lira. 1992, als der EU-Vertrag von Maastricht die Währungsunion besiegelte, waren es bereits 750 Lira. Sechs Jahre später, als die endgültigen Umrechnungskurse zum Euro festgelegt wurden, waren es fast 1.000 Lira – innerhalb von 25 Jahren ist der Lira-Wert auf ein Fünftel geschrumpft.

Weichwährungspolitik verteuert Importe massiv

Im sechsköpfigen EZB-Direktorium ist Deutschland ebenso in der Minderheit. Draghi kann die geldpolitische Meinung der größten EU-Volkswirtschaft souverän ignorieren: die sanfte Kritik von Weidmann ebenso wie die inszenierten Tobsuchtsanfälle von Wolfgang Schäuble. Zwei Politiken zieht die EZB seit Draghis Antritt 2011 rücksichtslos durch: die Nullzinspolitik und den Aufkauf von Staatsanleihen. Den Euro hat diese Weichwährungspolitik abstürzen lassen: vor zehn Jahren gab es für einen Euro noch über 1,50 Dollar. Derzeit sind es 1,06 Dollar. Wer 1999 sein Geld in Tschechische Kronen oder Schweizer Franken wechselte, erhielt damals etwa ein Drittel mehr als heute – doch diese Aufwertung hat beiden Exportländern offenbar nicht geschadet.

Ihr vertragsgemäßes Stabilitätsziel hat die EZB auf zwei Prozent Inflation umdefiniert. Dank der Verdoppelung des Ölpreises auf 55 Dollar je Faß lag sie im Januar in Deutschland bei bereits bei 1,9 Prozent – Tendenz: steigend. Die Nullzinspolitik sollte mit billigem Geld die Konjunktur beleben, doch im Euroraum stagniert das Wachstum bei unter einem Prozent. Der billige Euro verteuerte Importe und befeuerte die deutschen Exporte außerhalb des Euroraums: der Handelsbilanzüberschuß stieg von 159 (2011) auf 244 Milliarden Euro (2015).

Italiens Minus von 36 Milliarden Euro verwandelte sich in ein Plus von 50 Milliarden Euro. Frankreichs Handelsdefizit ist aber weiter gigantisch: es liegt bei 67 Milliarden Euro. Das bevölkerungsmäßig sechsmal kleinere Griechenland führt für 20 Milliarden Euro mehr ein als es exportiert. Auch Spanien (minus 27 Milliarden Euro) oder Portugal (minus elf Milliarden Euro) leben über ihre Verhältnisse, ihre Wirtschaft ist international nicht wettbewerbsfähig.

Um Banken zu riskanteren Kreditvergaben zu zwingen, führte Draghi Strafzinsen von minus 0,4 Prozent für ihre Liquiditätsüberschüsse ein, die von ihnen an die Kunden weitergereicht werden: Das ist faktisch eine Vermögensteuer durch die Hintertür – zusätzlich zu der schleichenden Enteignung durch die steigende Inflation, die Sparer oder Besitzer von Lebensversicherungen hart trifft. Schuldner und die Besitzer von Kapital und Immobilien profitieren hingegen. 25 Jahre nach Maastricht vollzieht sich eine Umverteilung von unten nach oben und von Norden nach Süden. Während in Spanien, Portugal, Griechenland oder Italien etwa drei Viertel und in Frankreich zwei Drittel in den eigenen vier Wänden wohnen, sind es in Deutschland und Österreich nur 50 bis 55 Prozent.

Seit 2015 läßt Draghi als „quantitative Lockerung“ für 80 Milliarden Euro monatlich Schuldverschreibungen und Anleihen zumeist der öffentlichen Hand aufkaufen. Allein bis September 2016 hatte die EZB 1.140 Milliarden Euro davon in ihren Büchern angehäuft. Wer profitiert davon? Die Schuldnerländer des EU-Südens. Nur 1,4 Prozent Zinsen muß Italien für seine Staatsschuld zahlen, die mit etwa 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukt das Doppelte des Maastricht-Stabilitätskriteriums erreicht hat. Das EZB-Kaufprogramm sollte unpopuläre Reformen ermöglichen, doch das billige Geld verführte zum Schuldenmachen: Beamtengehälter, Pensionen und Sozialleistungen werden mit frischem EZB-Geld finanziert.

Verschiedene Mentalitäten und Wirtschaftszyklen

Durch die Austrocknung des Anleihemarktes sollten Banken und Anleger zu riskanteren Investitionen gezwungen werden. Dabei hatte es im Mittelstandsanleihemarkt schon genug kapitalvernichtende Pleiten gegeben: von diversen Solarbetreibern über German Pellets, den Fahrradhersteller Mifa, KTG Agrar bis zum Modehaus Steilmann. Zudem schaffen die Niedrigzinsen eine neue „Industriepolitik“: irrwitzige Firmenübernahmen werden plötzlich erschwinglich. Statt sich durch organisches Wachstum zu vergrößern, lockt durch Megadeals der Sprung an die Weltspitze – und mit ihr ein Adrenalinstoß für das Ego der Firmenlenker und ihr Gehaltskonto.

Schon beim Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens zeigte sich, was passiert, wenn in verschiedenen Hauptstädten Geld gedruckt wird: Rubel und Dinar wurden prompt um die Wette gedruckt. Die Zeche sollten die anderen zahlen. Franzosen und Italiener eifern dem nach. Wie Hans-Werner Sinn aufdeckte, druckten die Banque de France und die Banca d’Italia etwa 510 Milliarden Euro, ohne daß die anderen dies sofort mitbekamen. Auch die EZB selbst leistete sich mit Überziehungssalden eine Geldvermehrung von einer Billion Euro, wie Sinn in seinem Buch „Die Target-Falle – Gefahren für unser Geld und unsere Kinder“ (JF 44/12) aufdeckte.

Der Euro und die EZB-Politik zeigen, was alles schiefgeht, wenn der politische Wille über den wirtschaftlichen Sachverstand siegt. Der Christdemokrat Ruud Lubbers bezeichnete bei einem Vortrag vor der Wiener Börse den Euro als eine „Mißgeburt“. Der damalige EU-Kommissar Mario Monti erinnerte den erregten niederländischen Ex-Premier aber daran, daß seine Unterschrift als EG-Ratschef als erste unter dem Maastricht-Vertrag stand. Währungspolitik sollte die Konjunkturzyklen begleiten: durch niedrige Zinsen bei Rezessionen Gas geben und bei Überhitzung durch hohe Zinsen abkühlen. Deutschland hätte derzeit höhere Zinsen nötig, um Spekulationsblasen im Immobilien- und Aktienmarkt zu verhindern und Exportüberschüsse zu begrenzen. Die Mehrheit der Euro-Südländer will aber eine lockere Geldpolitik.

Weil man Drachme, Escudo, Franc, Lira oder Peseta nicht mehr abwerten kann, soll der Euro eine Weichwährung bleiben, der die Inflation importiert. Die Wirtschaftszyklen der Euroländer passen nicht zueinander – und die Mentalitäten auch nicht. Notbehelfe wie der Euro-Stabilitätspakt von 1997 und eine neue Haushaltsdisziplin nach der Griechenlandkrise werden von der EU-Kommission selbst ignoriert. Helmut Kohl glaubte 1992 durch die Opferung der D-Mark die politische Einheit in Europa zu schaffen. Doch stattdessen hat er eine Euro-Dauerkrise geschaffen. Oder wie der einstige Euro-Verfechter und CDU-Spitzenpolitiker Friedrich Merz am Montag beim Düsseldorfer Ständehaus-Treff eingestand: „Der Euro wird zum Sprengsatz für die EU.“

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