© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Wer Alleinschuld sagt, will betrügen
Michael Steinmetz löst sich in der Deutung der Ursachen des Zweiten Weltkriegs von der Eindimensionalität
Günther Deschner

Zu den im offiziellen Geschichtsbild der Bundesrepublik zu Axiomen geronnenen und nachfolgenden Generationen vermittelten zeitgeschichtlichen Lehr- und Glaubenssätzen – speziell zu Genese und Verlauf des Zweiten Weltkriegs – gehört die Vorstellung, die politische Führung des damaligen Deutschen Reiches, insbesondere dessen Kanzler Adolf Hitler, habe – quasi „aus heiterem Himmel“ – zunächst gegen Polen, dann gegen die Nachbarn im Westen, und schließlich gegen das russische Riesenreich im Osten, Stalins bolschewistische Sowjet-union, einen Krieg nach dem andern „vom Zaun gebrochen“.

Zahlreiche Werke zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, die diesem „Mainstream“ verpflichtet sind (und dazu gehören auch die allermeisten der für den Geschichtsunterricht verwendeten Schulbücher) betrachten bei der Analyse der Ursachen des Zweiten Weltkriegs nur die Ziele Hitlers, seine Fehler und Verbrechen – die Revision des Versailler Friedensdiktats und die Gewinnung von Lebensraum. Leicht überspitzt könnte man meinen, der „kriegsgeile“ Kanzler des Großdeutschen Reiches habe unentwegt Kräutertee getrunken, in der Nase gebohrt und gegrübelt, wen er denn morgen oder übermorgen überfallen könne …

Zwar gab und gibt es immer wieder einzelne Historiker und Autoren, die mit Artikeln und Büchern einen größeren Horizont abschreiten und mit dem sowjetischen Diktator Stalin, dem britischen Premier Churchill und dem US-Präsidenten Roosevelt statt und neben Hitler auch andere Kandidaten für die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausmachten. Zu nennen sind hier aus den vergangenen Jahren die Forschungen des Historikers Stefan Scheil („Fünf plus Zwei“, Berlin 2003), oder der österreichische Militärhistoriker Heinz Magenheimer, der in der Wissenschaft als Hauptvertreter der Präventivkriegsthese 1941 gilt, oder der Ex-Bundeswehrgeneral Gerd Schultze-Rhonhof, der mit zu Bestsellern gewordenen seriösen Darstellungen gegen dieses offizielle, einseitig versimpelte Geschichtsbild der „deutschen Alleinschuld“ anschrieb. 

In seinem Buch „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ (München 2005) beispielsweise ging Schultze-Rhonhof davon aus, daß Hitler nach mehreren Verhandlungsangeboten und dem Friedenserhalt gewidmetem Zögern „im Frühjahr 1939 entschied, die deutsch-polnischen Probleme dann eben notfalls mit einem Krieg zu lösen“. Schultze-Rhonhof meint, Polen habe deswegen zumindest „unter anderem wegen der brüsken Ablehnung deutscher Verhandlungsangebote eine große Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs“. 

Auch London, Paris, Moskau und die USA seien am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beteiligt gewesen, da sie letztlich Polen in den Krieg getrieben hätten. Dem Gros der staatlich besoldeten deutschen Geschichtsvermittler wirft Schultze-Rhonhof vor, bei der Analyse der Kriegsschuld mit einem „verengten Tunnelblick“ zu arbeiten. Zudem stellt er fest, daß amtliche Quellenbände wie die „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ (ADAP) stellenweise manipuliert worden und die deutschen Schulbuchverlage noch immer „politisch gezwungen“ seien, „eine deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg festzuschreiben“.

Ein komplexes Gefüge von Ursachen und Wirkungen

Daß aber die Verantwortung für die Zuspitzung der europäischen Krise der dreißiger Jahre nicht nur bei Hitler und anderen europäischen Politikern sowie Moskaus Staats- und Parteichef Josef Stalin zu suchen ist, sondern daß auch Spitzenpolitiker der USA und hinter ihnen stehende Kreise (speziell der Hochfinanz und der Rüstungsindustrie) das ihre dazu taten, den Frieden zu verspielen, hatte als einer der ersten unter anderem der Journalist Dirk Bavendamm mit seinem Werk „Roosevelts Weg zum Krieg. Amerikanische Politik 1914–1939“ (München 1989) dargelegt. Darin beschrieb Bavendamm den politischen und persönlichen Werdegang Roosevelts und konzentrierte sich dabei vor allem auf dessen Politik im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Kritiker bezeichneten das Buch korrekt als „geschichtsrevisionistisch“, da Bavendamm Roosevelt eine starke Mitverantwortung an der Auslösung des Zweiten Weltkriegs zuwies. 

Die Arbeiten dieses Segments kenntnisreicher und im besten Sinne revisionistischer, das heißt den Forschungsstand kritisch in Frage stellender Darstellungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges haben nun durch eine Neuerscheinung von Michael Steinmetz Verstärkung erhalten: Während zahlreiche Werke zur Vorgeschichte des Jahres 1939 bei der Analyse der Ursachen des Zweiten Weltkrieges nur die Ziele Hitlers betrachten und die häufig keineswegs friedlichen Absichten und Strategien der anderen europäischen Mächte und der USA meist nicht berücksichtigt werden, hat Steinmetz mit seinem Werk eine ausgewogenere und detailliert dokumentierte Darstellung des komplexen Gefüges von Ursachen und Wirkungen vorgelegt, das zum deutschen Angriff auf Polen und zur Eskalation zum Weltkrieg führte. 

Insbesondere weist Steinmetz die Finessen der US-Diplomatie nach, Polen in seiner zu keinem Kompromiß bereiten Haltung zu bestärken. Aber auch das Vorgehen Deutschlands, das letztlich zum Abbruch der britischen Appeasement-Politik führte, etwa die Besetzung der sogenannten „Rest-tschechei“, wird nicht verharmlost. Dem Autor geht es nicht um den Versuch, einseitig nur eine Seite zu be- oder entlasten, sondern er analysiert sine ira et studio die unterschiedlichen Interessen und die verschiedenen geopolitischen und ökonomischen Strategien der beteiligten Mächte.

Michael C. Steinmetz: Wege in den II. Weltkrieg. Die Konfrontation in Europa und Roosevelts Kriegskurs. Osning Verlag, Bielefeld 2016, gebunden, 336 Seiten, Abbildungen 36 Euro