© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Knapp daneben
Streßfaktoren sind überall
Karl Heinzen

Die Legislaturperiode geht dem Ende entgegen. Nicht wenige Bürger haben sich seit ihrem Beginn auf diesen Moment gefreut. Manche Abgeordnete spüren, daß die Stunde des Abschieds von Berlin naht. Einige gehen freiwillig. Andere können sich ausrechnen, daß sie kaum eine Chance haben, wiedergewählt zu werden. Ihre Namen werden schon bald vergessen sein.

Wo die Zeit knapp wird, wächst das Bedürfnis, Bleibendes zu hinterlassen – und wäre es auch nur eine Idee, die niemand aufgreift. Besonders kreativ ist auf diesem Gebiet traditionell die Fraktion Die Linke. Sie muß selten befürchten, daß ihre Vorschläge auf fruchtbaren Boden fallen und im grausamen Realitätstest zu bestehen hätten. Meistens ist dies nicht weiter bedauerlich. Ab und zu aber eben doch. 

Ihr Antrag an das Parlament, die Bundesregierung zum Erlaß einer Anti-Streß-Verordnung aufzufordern, ist solch ein Fall. Er dürfte breiten Bevölkerungsschichten aus dem Herzen sprechen. Die Arbeitsprozesse werden immer schneller, die Arbeitszeiten immer länger. Von vielen Berufstätigen wird erwartet, daß sie ständig erreichbar sind. 

Chefs vergiften das Arbeitsklima. Kollegen benehmen sich unkollegial. 

Die Belastung wächst.

Die Gesundheit leidet. Erwerbsminderung, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung werden Massenphänomene. Selbst unter Managern, die doch eigentlich andere für sich arbeiten lassen sollen, grassiert der Burnout.Dies abzustellen ist sicher der Anspruch, den eine humane Gesellschaft an sich richten muß. Der Blick darf aber nicht auf das Erwerbsleben verengt werden. Arbeit ist eine unerfreuliche Zeitverschwendung, die krank macht. Das stimmt. Streßfaktoren sind aber überall anzutreffen. 

Unpünktliche Züge, Staus, quengelnde Kinder, blöde Kommentare auf Facebook-Posts, Warteschlangen, Zahnarztbesuche: All das und noch viel mehr nervt nicht weniger als der Job. Wer dem Streß den Kampf ansagt, muß daher das Leben insgesamt reformieren – und dies nicht nur für jene Menschen, die zufälligerweise in unserem Land leben, sondern für alle. Eine Linke, die sich dieser Realität nicht stellt, wird ihren Idealen untreu.