© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Den Zenit überschritten
Paul Rosen

Seit Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, ist Unruhe in die Berliner Abgeordnetenbüros eingekehrt. Zahllose Spekulationen schießen ins Kraut bis hin zu der – durchaus ernsthaft vertretenen – Theorie, Schulz könnte schon vor der Bundestagswahl Kanzler werden wollen

Aber der Reihe nach. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat den Parteikarren aus dem Graben geholt und sogar auf die Überholspur gebracht. Das war eine Kombination aus Glück und Unfähigkeit der Merkel-CDU, die allein auf die Person der Kanzlerin fixiert ist. Merkel war nicht fähig, einen überzeugenden Koalitionskandidaten für das Amt des Bundespräsidenten aufzubieten. Die offene Flanke nutzte Gabriel und schob Frank-Walter Steinmeier dahin. Er selbst konnte damit ins Außenamt und Schulz den Stab für die Kanzlerkandidatur übergeben. Der hatte vorher vergeblich versucht, Präsident des Europaparlaments zu bleiben. Das Vorhaben scheiterte nicht zuletzt deshalb, weil Merkel und die CDU einen Kandidaten aus Italien unterstützten. So orientierte sich Schulz nach Berlin, und seitdem wird Merkels Fundament von der „Schulz-Welle“ unterspült. Daß jetzt eine erste Umfrage die SPD vor der Union ausweist, ist fast unglaublich. Die Unterstützung der Medien hat die Kanzlerin verloren. Es wird einsam um Merkel. So sei das, wenn jemand seinen Zenit hinter sich habe, erkannte der frühere SPD-Chef Franz Müntefering ganz richtig. 

Das Phänomenale an der Kandidatur von Schulz ist, daß er und die SPD nichts zu verlieren haben. Das sind die gefährlichsten Gegner. Auf der 20-Prozent-Sohle waren sie, es kann eigentlich nur aufwärts gehen. Für die SPD kommt jetzt alles auf die Landtagswahl in Nord-rhein-Westfalen am 14. Mai an, die die Genossen zur kleinen Bundestagswahl umzufunktionieren versuchen, um von ihrer farb- und erfolglosen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft abzulenken und den Heimvorteil des aus NRW stammenden Schulz zu nutzen. Vorbild ist die Landtagswahl in Niedersachsen 1998, die von Gerhard Schröder erfolgreich in eine Vorentscheidung über die SPD-Kanzlerkandidatur gegen Oskar Lafontaine umfunktioniert wurde. 

Noch liegen SPD und CDU in Nord-rhein-Westfalen in Umfragen gleichauf, aber wenn die SPD dort davonzieht, könnte der nächste Streich folgen: ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Merkel im Bundestag mit Schulz als Kandidaten. Das könnte im Rausch des Wahlsiegs gleich am 16. Mai beantragt und am 18. Mai abgestimmt werden. Schulz braucht kein Abgeordnetenmandat zur Abstimmung, eine rot-rot-grüne Mehrheit ist zudem vorhanden. Er würde ein SPD- oder rot-grünes Minderheitskabinett bis zur Bundestagswahl bilden und die linken Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat nutzen, um Steuererhöhungen für Reiche ab 2018 beschließen zu lassen. Die Union müßte mit einer abgewählten Merkel in einen „Gerechtigkeitswahlkampf“ ziehen. 

Ein Traum? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Noch Mitte Januar wäre auch die These, Schulz werde Kanzlerkandidat und Gabriel Außenminister, in das Reich der Legende verwiesen worden.