© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Ein Schlächter ohne Skrupel
Vor 75 Jahren wurde Arthur Harris Chef des britischen Bomber Command / Mit ihm gewann Idee des Moral Bombing einen willfährigen Vollstrecker
Wolfgang Kaufmann

Nur einen Tag nach der britischen Kriegserklärung vom 3. September 1939 begann das Bomber Command der Royal Air Force mit Luftangriffen auf deutsche Städte: die ersten Ziele waren Wilhelmshaven und Brunsbüttel. Dabei ging es zunächst darum, die schweren Einheiten der Kriegsmarine zu treffen, welche dort lagen. Allerdings galt zu jenem Zeitpunkt bereits die Trenchard-Doktrin, formuliert von Hugh Montague Trenchard, dem sogenannten „Vater der RAF“. Der hatte im Mai 1928 ein Memorandum mit dem Titel „The War Object of an Air Force“ vorgelegt. 

In dem Text hieß es, so wie im Kriegsfall die Royal Navy dafür verantwortlich sei, Seeblockaden durchzuführen, müsse die Luftwaffe ihrerseits zur „strategischen Blockade“ des Gegners schreiten, indem sie seine Rüstungsbetriebe und Infrastruktureinrichtungen attackiere. Gleichzeitig verwies Trenchard auf den psychologischen Effekt von Städtebombardierungen. Diese Vorschläge des Chief of the Air Staff fielen sofort auf fruchtbaren Boden. Davon zeugen sowohl das „RAF War Manual“ vom Juli 1928 als auch der systematische Aufbau einer Flotte schwerer Fernbomber und die vorsorgliche Produktion von fünf Millionen Elektron-Thermit-Brandbomben in den Jahren bis 1939.

Die konkrete praktische Umsetzung der Trenchard-Doktrin erfolgte jedoch erst mit dem Beschluß der britischen Regierung vom 11. Mai 1940, den Bombenkrieg gegen das deutsche Hinterland freizugeben. Das war freilich trotzdem immer noch mehrere Monate vor den ersten Attacken der Luftwaffe auf Ziele wie London (ab 24. August 1940) oder das vielbeschworene Coventry (14. November 1940), in dessen Innenstadt sich die Flugzeugmotorenwerke von Armstrong Siddeley und diverse weitere Rüstungsbetriebe befanden. Andererseits sollte gerade die Zerstörung dieser Stadt durch den kombinierten Einsatz von Spreng- und Brandbomben die Strategie der britischen Seite beeinflussen. 

Die mußte nämlich die ernüchternde Erfahrung machen, daß die Zielgenauigkeit der Maschinen des Bomber Command extrem zu wünschen übrigließ. Das ging aus dem Bericht von David Bensusan-Butt hervor, der am 18. August 1941 an sämtliche Kabinetts-mitglieder verteilt wurde. Darin schrieb der Assistent von Professor Frederick Lindemann alias Lord Cherwell, einem der einflußreichsten Ratgeber von Winston Churchill, unter Bezug auf seine Auswertung der Ergebnisse sämtlicher Angriffe in den letzten Monaten, offensichtlich habe nur ein Drittel bis ein Zehntel der eingesetzten Maschinen den vorgegebenen Zielbereich getroffen! Dieses Fiasko legte natürlich nahe, zukünftig wesentlich großflächiger zu bombardieren und keine Punktziele mehr ins Visier zu nehmen, sondern analog der deutschen Luftwaffe in Coventry auf die Auslösung eines Feuersturms in den eng bebauten Innenstädten des Gegners hinzuarbeiten.

Hieran anknüpfend erarbeitete der deutschstämmige Physiker Frederick Lindemann das berühmt-berüchtigte „Dehousing Paper“, eine Beschlußvorlage, die am 30. März 1942 an den Premierminister ging und in dem Vorschlag gipfelte, dreißig Prozent aller Wohngebäude in 58 größeren, von der RAF erreichbaren deutschen Städten zu zerstören. Das werde den Widerstandswillen der Bevölkerung in Hitlers Reich sicher ein für allemal brechen. Und tatsächlich folgte das britische Kabinett der Argumentation des fanatischen NS-Gegners Lindemann, womit das sogenannte „Moral Bombing“, von dem man schon seit Juli 1941 sprach, ohne es aber wirksam zu praktizieren, nun ganz offiziell Teil der Kriegsstrategie des Empire wurde.

Parallel hierzu hatte auch das Air Ministry seine Schlußfolgerungen aus dem Butt-Report gezogen und seinerseits am 14. Februar 1942 die „Area Bombing Directive“ verabschiedet, welche den allgemeinen Übergang zu „Carpet Bombings“ (also Flächenbombardements) vorsah. Diese Anweisung des Luftfahrtministeriums war selbstverständlich genauso völkerrechtswidrig wie die Umsetzung des Lindemann-Plans: in beiden Fällen ignorierten die Verantwortlichen die Artikel 25 beziehungsweise 27 der Haager Landkriegsordnung in der damals geltenden Fassung vom 18. Oktober 1907, die es eindeutig untersagten, „unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen“ und dabei zugleich noch Kulturdenkmäler, Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen zu gefährden. 

Aufgrund dessen brauchte es einen Oberbefehlshaber des RAF Bomber Command, der skrupellos genug war, die neuen Richtlinien ohne Wenn und Aber umzusetzen. Dabei fiel die Wahl auf den bisherigen stellvertretenden Luftwaffenchef Air Marshal Arthur Travers Harris. Der hatte nämlich schon eigenhändig Bomben auf unbewaffnete Zivilisten abgeworfen: So geschehen während Harris’ Einsatz als Pilot und Staffelführer bei der Bekämpfung von Aufständen in Nordwest-Indien und dem Irak im Verlaufe der zwanziger Jahre. Trotzdem fühlte sich der Stabschef der Royal Air Force, Luftmarschall Charles Portal, dringend bemüßigt, dem bekennenden Deutschenhasser Harris am Tage nach dem Erlaß der „Area Bombing Directive“ nochmals ganz explizit einzuschärfen: „Ich nehme an, daß klar ist, daß die Ziele bebaute Gebiete und nicht beispielsweise Schiffswerften oder Flugzeugwerke (…) sein werden. Dies muß jedem klargemacht werden, falls es noch nicht so verstanden worden ist.“

Harris, der permanent an Magengeschwüren litt, aber dennoch in den folgenden drei Jahren nur ganze zwei Auszeiten von Wochenendlänge nahm, trat seinen Dienst als Chef des Bomber Command am 22. Februar 1942 an. Anschließend arbeitete er konsequent darauf hin, möglichst viele Maschinen in möglichst kurzer Zeit gegen ebenso leicht aus der Luft zu findende wie zu zerstörende Städte loszuschicken, um den gewünschten moralischen Effekt zu erzielen. In Verfolgung dieses Zieles schonte der wenig umgängliche und hochnarzißtische Luftwaffenoffizier ohne jedweden höheren Bildungs- oder Berufsabschluß auch die ihm unterstellten Besatzungen nicht: manchmal mußten sogar die eigentlich unersetzlichen Flugausbilder und deren Schüler an den gefährlichen Missionen teilnehmen, damit die Zahl der Bomber so groß ausfiel, wie Harris es vorschwebte. Dies war einer der Gründe, warum der Air Marshal den wenig schmeichelhaften Beinamen „The Butcher“ („Der Schlächter“) erhielt: Unter seinem Kommando starben immerhin 55.573 Angehörige der Bomber-Flotte – das waren fast 45 Prozent des Personalbestandes!

Der Kriegsverbrecher zeigte auch später keinerlei Reue

Ansonsten zeichnete er natürlich ebenso für die immensen Verluste unter der deutschen Zivilbevölkerung verantwortlich, die aus den systematischen Flächenbombardements der Royal Air Force resultierten. Deren Premiere erfolgte in der Nacht zum 29. März 1942 mit dem sogenannten Palmsonntags-Angriff auf Lübeck. Harris hatte sich für die Hansestadt entschieden, da sie problemlos zu lokalisieren war und ein Zentrum voller alter Fachwerkhäuser besaß, die besonders gut brannten. Außerdem gab es – abgesehen von der Flender-Werft – auch keine größeren kriegswichtigen Betriebe in Lübeck, weshalb lediglich neun Flakbatterien bereitstanden. Aufgrund all dieser Umstände verlief die Operation rundum erfolgreich. Von den 234 eingesetzten „Wellingtons“ und „Stirlings“ gingen lediglich zwölf verloren. Und es gelang tatsächlich, mittels der 24.000 abgeworfenen Brandbomben einen Feuersturm zu entfachen, in dem 320 Lübecker starben. Außerdem zerstörten die Briten 1.468 Gebäude in der Innenstadt, wodurch 15.000 Menschen ihres Zuhauses beraubt wurden.

Die gelungene Attacke auf Lübeck ermutigte Harris zu weiteren Flächenbombardements gleicher Machart, die aber meist deutlich weniger vernichtende Folgen zeitigten als das Unternehmen von Ende März. Deshalb stand bald eine gravierende Umstrukturierung oder gar Auflösung des Bomber Command zur Diskussion. Hieraufhin initiierte dessen Chef die „Operation Millenium“, den ersten Luftangriff mit über 1.000 Bombern, um zu demonstrieren, was die RAF erreichen könne, wenn nur genügend Flugzeuge und Personal zur Verfügung stünden. Ziel der Aktion in der Nacht zum 31. Mai 1942 war Köln, wo wegen des Einsatzes der Feuerwehr und weitläufiger Straßenzüge kein Feuersturm losbrach, jedoch immerhin über 16.000 Gebäude ausradiert wurden, was 469 Todesopfer forderte und 45.000 Einwohner der Domstadt obdachlos machte. 

Mit diesem Coup sicherte Harris die Existenz des Bomber Command, das dann zu Kriegsende über viermal so viele Maschinen verfügte wie im September 1939. Deshalb konnte der Air Marshal bis zum Mai 1945 noch zahllose weitere deutsche Städte in Schutt und Asche legen und dabei mehrere hunderttausend Zivilisten massakrieren lassen – wobei er immer wieder betonte, daß dieser Massenmord „von Hunnen“ die eigentliche Aufgabe des Bomber Command sei.

Gleichermaßen bekannte der faktische Kriegsverbrecher später, er würde keine der getroffenen Entscheidungen bereuen und nötigenfalls wieder so handeln – immerhin habe Deutschland mit dem Terror aus der Luft begonnen. Außerdem sei es das Verdienst der britischen Bomberstaffeln gewesen, feindliche Ressourcen zu binden und so den Krieg zu verkürzen. Darüber hinaus schrieb Harris in seinen Memoiren, die 1947 unter dem Titel „Bomber Offensive“ erschienen: „Trotz allem (…) war die Bombardierung eine relativ humane Methode der Kriegsführung.“ 

Diese Argumentation stieß allerdings nicht einmal in Großbritannien auf einhellige Zustimmung. Dafür stachen die von Harris zu verantwortenden Kriegs- und Völkerrechtsbrüche doch zu sehr ins Auge. Anderseits hatte er aber stets im vollen Einvernehmen mit der politischen und militärischen Führung des Empire gehandelt, welche ihm dann auf schäbigste Weise in den Rücken fiel, als die Weltöffentlichkeit realisierte, was die RAF eigentlich in Deutschland angerichtet hatte: Harris, der nach Kriegsende zunächst noch zum Ritter des Bath-Ordens und zum Fünfsterne-general der RAF avancierte, wurde später selbst ein so banaler Wunsch wie der nach Versetzung in den Kolonialdienst abgeschlagen. 

Keine größeren Ehrungen nach 1945 für Harris

Zugleich mußte er miterleben, wie die Besatzungen des Bomber Command sehr viel weniger ehrenden Respekt erfuhren als die Angehörigen der anderen britischen Teilstreitkräfte. Infolgedessen schied Harris am 15. September 1946 unter Protest aus der Luftwaffe aus und lehnte auch die angebotene Erhebung zum Peer ab. Damit blieb er der einzige Oberbefehlshaber des Empire im Zweiten Weltkrieg, der nicht in den Hochadel aufstieg, sondern nur den niedrigeren Titel eines Baronets verliehen bekam. Das geschah 1953, also zu dem Zeitpunkt, als der Pensionär aus dem selbstgewählten „Exil“ in Südafrika zurückkehrte, wo er – obzwar eingefleischter Navy-Verächter – die South African Marine Corporation gemanagt hatte. 

Erst 39 Jahre später widerfuhr dem „Schlächter“ Harris, der 1984 gestorben war, dann noch die Auszeichnung, ein von privaten Spendern finanziertes Denkmal vor der RAF-Kirche St. Clement Danes in London zu erhalten, das von Elizabeth, der „Queen Mum“, enthüllt wurde. Allerdings erlitt die 2,70 Meter große Bronzestatue nachfolgend immer wieder Beschädigungen, die von der bis heute anhaltenden Unpopularität des Mannes zeugen, der wohl für mindestens zwei Drittel der mindestens 600.000 deutschen Bombenkriegstoten (Wehler) verantwortlich zeichnet.