© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Die Europäische Union und das Christentum
Die verlorene Seele
Werner Münch

Wirft man einen Blick in die Gründungsgeschichte der Europäischen Union, dann erkennt man, welcher Glücksfall für die Entwicklung Europas in den Nachkriegsjahren die zentralen Gründerväter Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi und Robert Schuman waren. In ihrem politischen Denken standen die Aussöhnung der Völker, Frieden und neues Vertrauen im Mittelpunkt. Alle drei hatten diese Vision auch als gläubige Christen mit gemeinsamen religiösen Werten und Überzeugungen.

Die Freundschaft Adenauers mit De Gasperi, italienischer Ministerpräsident von 1945 bis 1953, war deshalb so tief, weil dessen Glaubensfundament wie sein eigenes unerschütterlich war. Auch der Franzose Robert Schuman war ein ebenso frommer wie unbeirrbarer Christ. Einer Besuchergruppe in seinem Ministerium erzählte er einmal: „Jeden Morgen, in der Frühe, verlasse ich inkognito das Areal und begebe mich durch diese von den Sicherheitsbeamten nicht bewachte Türe ganz ruhig zur Messe und zur Kommunion. Daraus ziehe ich meine Kraft für die Arbeit unter den Augen Gottes“ (aus G. Müller-Chorus, „Robert Schuman, der Christ“, in: Unitas 1/2011). Und Konrad Adenauer hat zum Beispiel vor seiner Reise nach Moskau im September 1955 eine Nacht am Grab des Heiligen Nikolaus von der Flühe in der Schweiz verbracht und gebetet.

Die Neukonstruktion Europas war gewollt als eine Friedensunion. Die Schlüsselbegriffe der ersten Verträge wie Weltfriede, gemeinsames Schicksal, tatsächliche Verbundenheit mit anderen Völkern und neues Vertrauen waren zu der Zeit revolutionär und haben als politische Vision eine starke Dynamik ausgelöst. Die „Seele Europas“ – ein Wort von Papst Johannes Paul II. – hatte ein christliches Fundament, ein verbindliches Ethos. Es gab zwischen den verantwortlichen Politikern der ersten Stunden einen Konsens über die Grundwerte menschlichen Lebens und menschlicher Würde, eine kongruente Sicht von Mensch und Gesellschaft. Europa wurde gedacht als eine „Gesinnung“, wie Romano Guardini es einmal ausgedrückt hat. Christliches Abendland bedeutete vor 70 Jahren Orientierung für verantwortungsbewußtes Handeln, das hieß vor allem Achtung vor dem Recht und der Würde des Menschen.

Aus der Gemeinschaft von sechs Staaten, die 1957 den EWG-Vertrag unterzeichnet haben, ist heute eine mit 27 Mitgliedstaaten geworden. In der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute hat es gewaltige Umbrüche in Europa gegeben. Frieden, Versöhnung und Wohlstand, Freiheit, Demokratie und Beachtung der Menschenrechte waren eine große moralische Kraft für ein neues Europa in der Nachkriegszeit. Die Generation unserer Kinder erlebt ein anderes Europa, als wir Älteren es in unserer Kindheit und frühen Jugend erfahren haben. Ob wir allerdings diesen positiven Befund auch an unsere Enkelkinder weitergeben können, ist noch nicht klar zu beantworten. Denn die entscheidende Frage ist, ob es heute noch eine Identität Europas gibt, die zwar nicht leicht zu beschreiben ist, bei der in jedem Fall aber die Würde der Person im Mittelpunkt steht, zu deren Achtung ja gerade das Christentum über viele Jahrhunderte einen grundlegenden Beitrag geleistet hat.

Gibt es heute noch ein verbindliches Ethos in der EU? Was macht ihre Identität aus? Die Krise der Wahrung des Rechts ist schlimmer als die der Finanzen. Die EU ist längst dabei, ihre christliche Kultur und Tradition zu verdrängen und ihren Zusammenhalt zu verlieren.

Aber gibt es heute noch ein verbindliches Ethos in der EU? Was macht ihre Identität aus? Zur Beantwortung dieser Frage rufen wir uns ein paar Fakten aus den letzten Jahren der europäischen Politik in Erinnerung:

In der Präambel des Lissabon-Vertrages, dem EU-Verfassungsvertrag, gibt es keinen Gottesbezug. In diesem Vertrag heißt es lediglich: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas ...“ Damit ist die historische Wahrheit unerwähnt geblieben.

Der Italiener Rocco Buttiglione, ein gläubiger Christ, wurde 2004 als Bewerber für das Amt eines EU-Kommissars abgelehnt, weil er bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament auf die Frage zur Homosexualität geantwortet hatte, er halte sie persönlich für eine Sünde, würde sich aber in seiner Arbeit an die Gesetze der EU halten.

Im EU-Jahreskalender 2011 waren alle jüdischen, buddhistischen, hinduistischen und muslimischen Feiertage sowie die der Sikhs aufgeführt, nicht aber die christlichen – angeblich aus Versehen.

Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz und jetzige Kanzlerkandidat der SPD hat im letzten Wahlkampf als Präsident des Europäischen Parlaments mehrfach öffentlich gefordert, daß alle Kreuze aus öffentlichen Räumen aller EU-Mitgliedstaaten verschwinden müßten, weil es in Europa „das Risiko einer sehr konservativen Bewegung zurück gebe, die im Sinne der Anti-Diskriminierung bekämpft werden müsse“.

Und schließlich muß man sich aufgrund der aktuellen Probleme der letzten Zeit fragen, ob die EU überhaupt noch willens und fähig ist, ihre gegenwärtige politische Krise zu meistern. Denn es ist besonders verwerflich, daß bestehende Verträge gedehnt, uminterpretiert, gebrochen und verändert werden, für eigenes Versagen versucht wird, andere Mitgliedstaaten in die Pflicht zu nehmen, die Umsetzung von getroffenen Vereinbarungen nicht erfolgt, zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage, sowie Lasten und Probleme auf die Nachbarn verschoben werden. Die Krise der Wahrung des Rechts ist schlimmer als die Krise der Finanzen.

Der Befund, der beliebig erweitert und mit zahlreichen Beispielen angereichert werden könnte, zeigt zweifelsfrei, daß die EU längst dabei ist, ihre christliche Kultur und Tradition zu verdrängen und ihren Zusammenhalt zu verlieren. Dies wird noch deutlicher bei zwei politischen Grundfragen, nämlich dem Lebensschutz sowie Ehe und Familie.

Lebensschutz: Es ist seit Jahren konkrete Politik der EU, von allen Mitgliedstaaten die Legalisierung der Abtreibung zu fordern und durchzusetzen, obwohl die EU in dieser Frage keine Kompetenzen hat. Die Zuweisung von Finanzmitteln für bestimmte Projekte, insbesondere für Länder der Dritten Welt, wird von dieser Bedingung abhängig gemacht. In allen Berichten des Europäischen Parlaments wird die Abtreibung als Menschenrecht, auch für Minderjährige, ohne Zustimmung der Eltern gefordert mit dem zusätzlichen Verbot der Berufung auf sein Gewissen, zum Beispiel eines Arztes, eines Pflegers oder einer Krankenschwester, sich an einer Abtreibung nicht zu beteiligen.

Im Zusammenhang mit weiteren Fragen des Lebensschutzes ist in jedem Fall noch ein Blick auf die Forschung in der Bio- und Gentechnologie erforderlich, weil diese Forschung inzwischen teilweise bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Zahlreiche europäische Forscher sind der Vision des perfekten Menschen verfallen und kennen keine Grenzen bei ihrem Ehrgeiz zu seiner ständigen Optimierung. Mit der Rolle eines Geschöpfes sind sie nicht mehr zufrieden und wollen deshalb Schöpfer spielen. Treffend hierzu ist der Spottvers des polnischen Lyrikers Stanislaw Jerzy Lec, der lautet: „Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“

Wir haben nur dann eine Chance zur Korrektur und zur Umkehr, wenn wir damit aufhören, menschliches Leben zu manipulieren, die Familie neu zu definieren, die Existenz der Wahrheit zu leugnen und das Gewissen der Menschen auszuschalten.

Ehe und Familie im Gender Mainstream: Mindestens so große Sorgen macht die Bewertung der heterosexuellen Ehe und Familie, die von der Ideologie des Gender Mainstreaming zerstört werden soll. Sie wird aktiv von den Organen der EU betrieben und von anderen Organisationen, zum Beispiel der Uno und der WHO sowie zahlreichen Lobby-Gruppen mit hohen Finanzmitteln unterstützt. Sie betreibt dabei eine fundamentale Konfrontation und anthropologische Revolution vor allem gegen das christliche Menschenbild. Diese Ideologie will nämlich die Auflösung der Identitäten von Mann und Frau, indem sie behauptet, daß das Geschlecht nicht biologisch vorgegeben sei, sondern sozial bestimmt ist. Sie will die Auflösung der Identitäten von Mann und Frau und die Beseitigung jeder moralischen Begrenzung und Bewertung sexueller Handlungen, weshalb sie alle Normen der Sexualität abschaffen will. Würde und Scham gehören der Vergangenheit ebenso an wie das Wohl und der Schutz des Kindes.

Und obwohl diese Ideologie die Lebensbedingungen der Menschen massiv verändert, wird sie nicht in den Parlamenten diskutiert, sondern von den nationalen Regierungen entschieden und zum „Leitprinzip des Regierungshandelns“ erklärt, auch in Deutschland, ohne daß sich das Parlament dagegen wehrt. Man kann sich auch selbst entmachten!

Der abschließende Befund ist eindeutig: So wie bei der Gründung der EU das christliche Menschenbild die Leitidee war, sind heute der Werteverfall und ein Verlust des Kulturniveaus in unseren europäischen Gesellschaften längst Realität. Die EU hat schon seit langem die christliche Grundlage Europas verdrängt und macht Politik ohne oder sogar gegen sie. Wir anerkennen ausdrücklich, daß uns die EU in unserem Kontinent über viele Jahre Frieden und Freiheit gebracht hat, aber das Wertefundament ist bröckelig und löcherig geworden. Es gibt eine Grundlage gemeinsamer Werte, die in der christlich-abendländischen Kultur und Tradition verwurzelt sind und identische Zielsetzungen begründen. Aber die Bereitschaft oder sogar der feste Wille, die europäische Politik unter Beachtung dieser Werte zu gestalten, weiter auszubauen oder wenigstens zu stabilisieren, hat weitgehend abgenommen. Die EU hat ihre Grundlagen verleugnet und damit ihren inneren Halt, ihre Identität verloren.

Wir haben nur dann eine Chance zur Korrektur und zur Umkehr, wenn wir damit aufhören, menschliches Leben als etwas Materielles zu manipulieren, die Familie neu zu definieren, die Existenz der Wahrheit zu leugnen und das Gewissen der Menschen auszuschalten. Zur Zeit sieht es nicht so aus, daß dies gewollt ist.






Prof. Dr. Werner Münch, Jahrgang 1940, war CDU-Europaabgeordneter (1984–1990) und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt (1991–1993). Er verließ 2009 die CDU aus Protest gegen den Kurs von Angela Merkel. Vor Beginn seiner politischen Karriere war Münch Rektor der Katholischen Fachhochschule Norddeutschland in Osnabrück und Vechta, später Präsident der siebzehn kirchlichen Hochschulen in Deutschland. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik arbeitete er für die Deutsche Bahn in Brüssel und beriet die Regierung von Bulgarien und eine Stiftung in Aserbaidschan.

Foto: Bundeskanzler Konrad Adenauer (l.), der französische Außenminister Robert Schuman (M.) und sein italienischer Amtskollege Alcide De Gasperi (r.) am Rande einer Sitzung des Europarats 1951 in Straßburg: Die zentralen Gründerväter der europäischen Einigung einte der christliche Glaube. Das christliche Menschenbild war die leitende Idee. Heute sind der Verfall der Werte und der Niedergang des Kulturniveaus in den europäischen Völkern längst Realität.