© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Freitod im postrassischen Paradies
Ein Weltbürger sucht ein Land der Zukunft: Eine neue Biographie Stefan Zweigs
Dirk Glaser

Vor 75 Jahren, am 23. Februar 1942, schied Stefan Zweig gemeinsam mit seiner Frau Lotte Altmann aus dem Leben. Das Ehepaar, im Herbst 1941 auf der letzten Station seiner Odyssee, dem Kurort Petrópolis nahe Rio de Janeiro eingetroffen, hatte sich dort mit einer Überdosis Schlafmittel vergiftet.

Der Freitod Zweigs löste unter exilierten Schicksalsgefährten weniger Trauer als vielmehr Entsetzen, ja Empörung aus. Denn, abgesehen von den kalifornischen Villenbesitzern Lion Feuchtwanger und Thomas Mann, hätte dem äußeren Anschein nach kein vor Adolf Hitler geflohener Autor weniger Grund für einen solchen Schritt gehabt als Stefan Zweig, der sich, wie er selbst einmal sarkastisch bemerkte, das Exil wenigstens „leisten“ konnte. Blieb ihm doch der Erfolg überall treu, egal, wohin ihn das Exil führte, nach London und Bath (Somerset), nach New York und Rio. 

Seit den 1920ern unverändert, behauptete der Verfasser von Biographien, Essays und Novellen, die in alle Kultursprachen übersetzt worden waren, auch 1940 noch seinen Rang als Auflagenmillionär, dessen Weltruhm überdies das moralische Kapital des Humanisten und Pazifisten mehrte und ihn zur Galionsfigur der bürgerlichen Anti-Hitler-Fraktion des Exils adelte. Wenn ein solcher Mann aufgab, just in den Tagen, als die japanischen Streitkräfte Singapur, die britische Schlüsselstellung in Fernost, bezwangen, Rommels Afrikakorps seinen Siegeslauf Richtung Ägypten startete und die Krisis des deutschen Ostheeres in Rußland überwunden schien, mußte von diesem Suizid für die Masse weit weniger privilegierter Exilanten ein bitter entmutigendes Signal ausgehen.

In der älteren Zweig-Forschung dominiert folglich die These, das scheinbar unaufhaltsame Vordringen der Achsenmächte sei für den ohnehin von schweren Depressionen gequälten 60jährigen der Auslöser gewesen, um den seit längerem erwogenen Selbstmord zu realisieren. Eine Erklärung, die George Prochnik, seinem jüngsten Biographen, nicht genügte. Keine Kurzschlußreaktion, so lautet seine Gegenthese, habe das „heimatlose Wandern“ des Ehepaars beendet, ebensowenig der oft reklamierte desolate Gesundheitszustand Lotte Altmanns, sondern ein abschreckend komplexes Bündel mentaler und weltanschaulicher Dispositionen, das nur zu entwirren sei, wenn man den Lebensweg Zweigs weit zurück in seine Wiener „Welt von gestern“ verfolge. 

Für dieses geistige Fitneß fordernde Unternehmen zeigt sich Prochnik, der neue Archivquellen erschloß, zu ultimativen Terminen hochbetagte Zeitzeugen befragte, an „Originalschauplätzen“ zwischen Bath und Petropolis recherchierte und vor allem die mittlerweile mächtig angeschwollene Literatur gründlich auswertete, optimal vorbereitet. Es sind dann aber gerade die Materialberge, die den Autor, der etwa ein Jahrzehnt auf Zweigs Lebenspfaden wandelte, häufig zu abschweifender, unübersichtlicher Darstellung verlocken, die zudem, um nur ein Beispiel zu nennen, für das brasilianische Exil verglichen mit Alberto Dines’ minutiöser Rekonstruktion „Tod im Paradies“ (2006) deutlich abfällt. 

Realität in Brasilien wich vom ersehnten Traumbild ab

Die Lektüre erleichtert auch nicht, daß in typisch angelsächsischer Manier, mit persönlicher Betroffenheit um Aufmerksamkeit buhlend, die ebenfalls vom Exilschicksal geprägte, im jüdischen Milieu Wiens verwurzelte Familiengeschichte Prochniks in die Zweig-Biographie eingeht. Gleichwohl ist ein roter Faden im Labyrinth auszumachen: Zweigs Judentum.

Der Sohn eines schwerreichen Textilfabrikanten, früh mit Theodor Herzl bekannt, jedoch kein Zionist, sondern, wie Karl Kraus – nie erlahmender Verächter des schlamperten Stilisten: „Als Novellist großen Formats hat Stefan Zweig sich alle Sprachen erobert – bis auf eine“, seine Muttersprache – ein Fürsprecher der Assimilation der europäischen Judenheit: „Durch Auflösung zur Erlösung“.

Warum der schon als Student in der Internationale der Intellektuellen glänzend vernetzte Zweig trotzdem durch die Erfahrung des „Nichtdazugehörens“ bereits vor 1933 in einem „Exil auf Probe“ gelebt haben soll, so daß die Emigration 1934, von Salzburg nach London, eigentlich nicht als Zäsur zu werten sei – dieser Frage weicht Prochnik aus. Stattdessen mündet bei ihm Zweigs kosmopolitisches Judentum im pazifistischen Engagement des „Paneuropäers“, der allzu optimistisch die deutsch-französische Verständigung, den „Geist von Locarno“, als Vorschein der nahen „Einheit der Menschen auf Erden“ überschätzte. 

Wie grausam der jüdisch-kosmopolitische Traum an der Wirklichkeit zerschellte, habe Zweig dann ausgerechnet in Brasilien erfahren, dem von ihm glorifizierten „Land der Zukunft“, das ihn 1936 wie einen Staatsgast empfing. Seine 1941 veröffentlichte Hommage an das Gastland verherrlichte daher die semi-faschistische Vargas-Diktatur. Und erwies sich damit als ahnungslose Apologie des exzessiv nationalistischen, auf Rassentrennung im Einwanderungsland beharrenden „Estado Novo“, der seit 1937 Personen „semitischer Herkunft“, Berühmtheiten wie Stefan Zweig ausgenommen, keine Einreisevisa mehr erteilte. 

Der sexuelle stets mit politischer Freiheit verwechselnde Freudianer Zweig sah hingegen in Brasilien, wie sein hierin mit ihm sympathisierender Biograph referiert, ein „postrassisches Paradies“, wo staatlich geförderte „ungehemmte Durchmischung“ und „nicht-segregierte Erotik“ jene „schönen gemischtrassigen Menschen“ zeuge, die demnächst, nach der „Verschmelzung der Völker“, den Weltstaat bewohnen würden. 

Wie seine private Korrespondenz verrate, sei Zweig sich des Illusionismus solcher Projektionen und damit überhaupt der Realitätsferne seiner seit dem Ersten Weltkrieg propagierten Humanitätsreligion sukzessive bewußt geworden. Eine Enttäuschung, die suizidale Folgen zeitigte. Woran zu erinnern ist, wenn noch heute nach „Bereicherung“ gierende bundesdeutsche Pauschalreise-Kosmopoliten vermeintlich sozialharmonische „Regenbogen“-Staaten wie Brasilien und Südafrika als multikulturelle Leuchttürme preisen (JF 49/15).

George Prochnik: Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt. Verlag C. H. Beck, München 2016, gebunden, 397 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro