© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/17 / 24. Februar 2017

Eine Krise, die ein Großteil der Welt vergessen hat
Ostukraine: Ein Friedensvertrag tut höchste Not, doch die Milizen beider Konfliktparteien drängen auf eine Fortführung der Kämpfe
Marc Zoellner

Es ist zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer: Ein neuer Waffenstillstand, so hieß es am Rande der in der bayerischen Landeshauptstadt abgehaltenen Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende, solle bereits Anfang dieser Woche in Kraft treten, um die Vereinbarungen von Minsk II – dem bereits im Februar 2015 ausgehandelten Fahrplan zu einer friedlichen Lösung des Ukrainekonflikts – noch einmal zum neuen Anlauf zu verhelfen. Ausgehandelt hatten dies die Außenminister Rußlands und der Ukraine sowie als Mediatoren ihre Kollegen aus Frankreich und Deutschland.


Präsident Poroschenko ermahnt Nationalisten


Konkret heißt das: Sowohl Kiew als auch die Rebellen im Donezbecken, dem sogenannten Donbass, verpflichten sich nicht nur zur Einstellung sämtlicher Kampfhandlungen. Sie haben ebenso ihre schweren Waffen, wie bereits in Minsk unterzeichnet, von der Frontlinie auf eine Entfernung bis zu 150 Kilometer abzuziehen, den Mitarbeitern der OSZE die Aufsicht über dieses Kriegsgerät zu genehmigen, einen Austausch von Häftlingen und Kriegsgefangenen voranzutreiben und – diese Forderung galt insbesondere der Kiewer Regierung – die Handelsblockade über das Donezbecken aufzuheben. „Es gilt, ab dem 20. Februar zu einem Waffenstillstand zu kommen und das zu tun, was schon lange verabredet ist, aber nie stattfand“, zeigte sich Sigmar Gabriel bei einer anschließenden Pressekonferenz zuversichtlich.


Ein Friedensvertrag für die Ukraine tut höchste Not – zumindest darin waren sich nicht nur die Konferenzteilnehmer einig. Denn die Opferzahlen der vergangenen 34 Monate sind für beide Seiten kaum mehr tragbar, geschweige denn zu rechtfertigen. „Die Kampfverluste der bewaffneten Streitkräfte der Ukraine betrugen in dieser Zeit 2.197 Tote sowie über 8.000 Verletzte“, faßte der Kiewer Armeechef Wiktor Muschenko bei einer Lagebesprechung mit ausländischen Attachés zusammen. Und auch die Zahl der Toten auf seiten der Rebellen beläuft sich Schätzungen zufolge zwischen vier- und fünfzehntausend Menschen.


Schlimmer noch ist die Lage für die Zivilisten der Region: Rund 1,7 Millionen Einwohner der Ukraine gelten als Flüchtlinge im eigenen Land, eine gute weitere Million ist mittlerweile im Ausland untergekommen. Allein in der Ostukraine, mahnte das Kinderhilfswerk Unicef, bedürfen mittlerweile über eine Million Kinder dringender humanitärer Hilfe. Etwa doppelt so viele wie noch im Februar vergangenen Jahres. „Es ist ein unsichtbarer Notfall; eine Krise, welche der Großteil der Welt längst vergessen hat“, erklärte Giovanna Barberis, Unicef-Abgesandte für die Ukraine, vergangenes Wochenende zur Veröffentlichung ihres neuen Berichts über das Land. „Die Kinder der Ostukraine haben in den vergangenen drei Jahren unter der konstanten Bedrohung von unberechenbaren Kämpfen und Beschuß zu leben gehabt. Ihre Schulen wurden zerstört, sie wurden von zu Hause vertrieben, und ihr Zugang zu grundlegenden Bedarfsgütern wie Wärme und Wasser wurde abgeschnitten.“


Doch gerade die Milizen beider Konfliktparteien drängen auf eine Fortführung der Kampfhandlungen. So gingen auch dieses Wochenende erneut Tausende Anhänger des radikalnationalistischen ukrainischen Rechten Sektors in Kiew auf die Straße, um für die Aufrechterhaltung der Blockade gegen die Ostukraine zu demonstrieren. Bei den folgenden Straßenschlachten mit der Polizei wurden sieben Menschen verhaftet; unter ihnen auch der Vorsitzende der Organisation ukrainischer Nationalisten, Mykola Kokhanivskyi. „Wir warnen noch einmal die Behörden, die mit den besetzten Gebieten Kohle handeln, daß sie Geld aus Blut verdienen“, verkündete Kokhanivskyi noch kurz vorab vor seinen Anhängern. „Schande dieser korrupten Regierung, dem Feind in unseren Reihen!“


Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko wiederum mahnte die Nationalisten, die seit Ende Januar Bataillone bildeten, um selbständig die Zugverbindungen zwischen den beiden Landesteilen zu unterbrechen, daß auch der Westen der Ukraine von den Kohle­lieferungen des Ostens abhängig sei. Ansonsten, so Poroschenko, gingen in nächster Zeit allein über 300.000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren.


Auch auf seiten der prorussischen Rebellen macht sich Unwillen über die Münchner Verhandlungen breit. „Von welchem Waffenstillstand sprechen die da?“, ließ sich ein hochrangiger Kommandeur noch am gleichen Samstag von der Nachrichtenagentur AFP zitieren. „Ich sehe einfach keinen Grund dafür, einen Waffenstillstand zu erklären.“


Putin schafft vollendete Tatsachen  


Tatsächlich fühlen sich die Separatisten sogar einen Schritt näher im Erreichen ihres Ziels der Abspaltung des Donezbeckens von der Ukraine: Denn ebenfalls am Samstag erklärte Präsident Wladimir Putin die künftige Anerkennung der vom Donbass-Regime ausgestellten Dokumente, von Geburtsurkunden, Reisepässen und Nummernschildern, durch die russischen Behörden.


Für das Donezbecken, so scheint es, arbeitet Moskau auf eine Abchasienlösung hin: Einen dauerhaften Waffenstillstand ohne anschließenden Friedensvertrag auszuhandeln; finanzielle und beratende Beihilfe zum Aufbau autonomer Verwaltungsstrukturen zu leisten; schlußendlich durch einseitige Anerkennung der Separatistenregierung die De-facto-Abspaltung der entsprechenden Region vom Mutterland zu zementieren.


In diesem Zusammenhang standen in München besonders für die USA, deren neuer Präsident Donald Trump erst kürzlich die Herausgabe der von Rußland besetzten Krim-Halbinsel forderte, Ursache und Lösung des Ukrainekonflikts längst fest: Für die anhaltenden Waffenstillstandsverletzungen, so US-Außenminister Mike Pence, „werden die Vereinigten Staaten auch weiterhin Rußland zur Rechenschaft ziehen“.