© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/17 / 24. Februar 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn


In Berlin geht alles ins Auge, erst recht gilt das für die Berlinale. Das beginnt – beispielhaft – schon vor dem Filmbeginn des serbischen Streifens „Stado“ (Die Herde), der von zwei legendären Schauspielern aus der Zeit des früheren Jugoslawien handelt, die nach dessen Zerfall verzweifelt versuchen, einen Produzenten für ihren Film zu gewinnen, da alle Wege durch Korruption und politische Seilschaften verstellt sind. Selbst die extremste Form von Opportunismus wird nicht belohnt: Etwa als der Protagonist Kolja bei einer slowenischen Fischerei um Sponsorengelder bettelt, zunächst auf die Kroaten schimpfend, dann – realisierend, daß deren Management geblieben ist – über die Slowenen herzieht, was aber ebenso ohne Wirkung bleibt, woraufhin er über serbische Frauen lästert, nicht ahnend, daß sein Gegenüber mit einer verheiratet ist. Zudem sind alle Ideale verloren: „Helden gibt es keine mehr, und keine Frauen, für die zu sterben sich noch lohnte.“ Bevor ich diese Szene sehe, macht der bullige Serbe in der Reihe hinter mir eine: Als ich mich vor dem Setzen in einer der untersten Reihen umdrehe, um kurz in den Saal hochzuschauen, brüllt mich dieser, dessen Gruppe ich gar nicht beachtet hatte, an: „Was guckst du hier meine Frau?“ Und prahlt: „Sowas box ich um.“

Währenddessen versuchen die zwei tragischen Helden Cveja und Kolja sich durchzuboxen und verkaufen am Ende ihre Seele, was deren Frauen wie folgt kommentieren: „Sie sind der herrschenden Partei beigetreten, sie sollen tot umfallen!“

Wirklich leblos erscheint dagegen der deutsche Film, denn „Papas Staatskino ist tot“. Dieser Diagnose des Freibeuters Klaus Lemke folgt die Dokumentation „Offene Wunde deutscher Film“ von Dominik Graf und Johannes F. Sievert, die deren ersten Teil „Verfluchte Liebe deutscher Film“ (JF 9/16) fortsetzt. Hier wird nach dem Unterbewußten der deutschen Filmgeschichte gegraben, den tabuisierten Genrefilmen von Trash, Horror und Heimat, die nicht im vermeintlich künstlerisch wertvollen, vom Über-Ich geprägten Nachkriegsfilmkanon des „Guten“, „Wichtigen“ zu finden sind. „Pastorenfilme“, so Dominik Graf, da wir uns „staatstragend verhalten sollen“. Bezeichnend ist der Zeitpunkt der Vorführung: parallel zum totlangweiligen „Tatort“, weshalb der Moderator dem Publikum im restlos besetzten Saal dankt. Tatsächlich ist der Abend aufregender als der ARD-Krimi und unterhaltsamer als deutsche Komödien, die – so Graf – nicht körperlich seien, sondern „domestiziert auf den Dialog“.