© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Voodoo mit wissenschaftlichem Anstrich
US-Import „Critical Whiteness“: Ein neuer autoaggressiver Schulddiskurs hält Einzug in die linken Seminarräume der Republik
Thorsten Hinz

Die Vertreibung der „Negerküsse“ und „Mohrenköpfe“ aus der erlaubten Sprache war ärgerlich, als Sache des Takts aber einzusehen. Die Streichung der „Neger“ aus den Kinderbüchern Astrid Lindgrens und Otfried Preußlers ist problematischer, denn sie raubt ihnen viel von ihrer Farbigkeit, ihrem imaginativen Reiz, ihrer Poesie. Das Wort „Nigger“ aus den Romanen von Mark Twain zu eliminieren heißt schließlich, sie ihres Zeitkolorits zu entkleiden, literarisch zu entwerten und den Leser für dumm zu verkaufen.

In den westlichen Ländern häufen sich solche Maßnahmen, und ihre Intensität nimmt zu. In London haben Studenten der School of Oriental and African Studies (SOAS) gefordert, weiße Philosophen weitestgehend aus dem Lehrplan zu entfernen und den Fokus der Universität stärker auf Asien und Afrika zu richten. In den „pädagogischen Prioritäten“ sollen „das strukturelle und erkenntnistheoretische Erbe des Kolonialismus“ angesprochen werden. Der Großteil der in den Kursen behandelten Philosophen müsse aus dem globalen Süden kommen. Die Gründerin der Black British Academics, Deborah Gabriel, sagte der Zeitung Independent, die Lehre basiere oft auf sehr engen Kriterien und sei tendenziell eurozentrisch. Angesichts globaler und nationaler Prioritäten im 21. Jahrhundert sei „ein kulturell demokratisches Curriculum“ nötig.

Ein amerikanischer Schulbuchverlag, der eine Neuausgabe von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ herausbrachte, warnt vor Risiken und Nebenwirkungen: „Bevor sie es ihnen erlauben, dieses klassische Werk zu lesen, sollten Eltern mit ihren Kindern vielleicht besprechen, wie sich die Sicht auf Themen wie Rasse, Geschlechterrolle, Sexualität, Ethnizität und interpersonelle Beziehungen verändert hat, seit dieses Buch geschrieben wurde.“ Die historisch-kritische Lektüre,  einst eine glatte Selbstverständlichkeit, wird durch das politisch korrekte Lesereglement ersetzt.

Kritik erfolgt stets im Modus der moralischen Empörung

Es bahnt sich ein Angriff auf das abendländische Denken, auf die europäische Kultur- und Geisteswelt an, die nun mal größtenteils von weißen Männern hervorgebracht wurde. Aufmunitioniert wird er wesentlich durch die „Critical Whiteness“, die „Kritische Weißseinsforschung“, die sich in den frühen 1990er Jahre in den USA etablierte und vor gut zehn Jahren nach Deutschland überschwappte. Zu den Stichwortgebern zählt die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison, die 1993 den Literaturnobelpreis erhielt. 

Morrison hatte einen Perspektivenschwenk um 180 Grad in der Forschung zu Rassebegriff und Rassismus gefordert: von den „Objekten“, den „Schwarzen“, auf die Subjekte, die „Weißen“ und die von ihnen geschaffenen Herrschaftsstrukturen. „Ich schlage (...) also vor“, schrieb Morrison, „die Auswirkung von Ideen rassistischer Hierarchie, rassischer Ausgrenzung und rassischer Verletzbarkeit und Verfügbarkeit auf Nichtschwarze zu untersuchen, die diese Ideen vertreten haben oder ihnen widerstanden, sie erkundeten oder sie veränderten.“ Der Weiße soll seiner zentralen und normstiftenden Position enthoben und das „Weißsein“ als unsichtbarer Maßstab für Nichtweiße abgeschafft werden. Sogar weiße Menschen, die sich als antirassistisch begreifen, hätten diesen Maßstab verinnerlicht.

Morrisons Ansatz besitzt eine gewisse Plausibilität. Nehmen wir die alte „Struwwelpeter“-Geschichte, in der drei deutsche Jungs – Wilhelm, Kaspar und Ludwig – ein „Mohrenkind“ verhöhnen, worüber der „große Nikolas“ („mit seinem großen Tintenfaß“) in heiligen Zorn gerät: „Was kann denn dieser Mohr dafür, / daß er so weiß nicht ist wie ihr?“ Er tunkt die Bösewichter in die Tinte mit dem eindeutigen Ergebnis: „Und sehet nur, wie schwarz sie sind, / viel schwärzer als das Mohrenkind.“ In wohlmeinender Absicht wird das Schwarzsein als Makel herausgestellt, der so groß ist, daß er sich sogar als Strafe eignet. Der antirassistische Nikolas, der dem Mohren Mitleid, Nachsicht und Hilfe gewährt, unterstreicht damit seine überlegene Stellung – und erhebt sich nebenbei über seine weniger verständigen Mitbürger. Im übrigen kann die gewährte Gnade auch wieder aufgekündigt werden. Man kann verstehen, daß Schwarze diese fürsorgliche Paternalisierung als die subtile Fortsetzung ihrer Diskriminierung empfinden.

Die Weißseinsforschung leitet daraus den Auftrag ab, die „weiße“ Dominanzkultur auf ihre rassistischen Beimengungen zu überprüfen. Nicht unter historisch-kritischen Aspekten, also unter Berücksichtigung der geschichtlichen Kontexte, der jeweiligen Wissens- und Erfahrungshorizonte und ihrer allmählichen Weiterungen, sondern im Modus der moralischen Empörung. Damit tut sich ein unerschöpfliches, leicht zu beackerndes Betätigungsfeld auf, das schnellen Ruhm verspricht, denn keine der „weißen“ Geistesinstitutionen – der deutsche Idealismus, die europäische Aufklärung, Luther, Shakespeare noch die alten Griechen – kann den Ansprüchen der Antirassisten genügen. Die „Weißseinsforschung“ hat den zusätzlichen Vorteil, daß sie mit anderen Forschungszweigen leicht kombinierbar ist: mit der Untersuchung des Antisemitismus, der Islamophobie, Homophobie, mit der Gender- und Feminismusforschung. Es ist es kein Zufall, daß Frauen in diesem Bereich klar überwiegen. Vor prinzipieller Kritik ist diese Forschung durch die politische Korrektheit geschützt. Im Gegenzug versorgt sie diese mit neuen Sprachregelungen und Inspirationen und wird allmählich selbst zu einer öffentlichen Macht.

Das führt zu Konstellationen, die scheinbar absurd, doch leicht zu erklären sind. Kürzlich berichtete die taz vom Fall der US-Schauspielerin Ellen Pompeo, die via Twitter zum Boykott einer TV-Dokumentation über den Ku-Klux-Klan aufgerufen hatte, den sie als zu wenig kritisch empfand. Nachdem der Sender den Titel abgeändert hatte, ließ Pompeo auf Twitter Emoji-Hände Beifall klatschen, und zwar schwarze Hände. Es folgte ein Shitstorm: Die Schauspielerin könne keine Diskriminierungserfahrung aufgrund ihrer Hautfarbe gemacht haben und dürfe deshalb keine schwarzen Emojis benutzen.

Es handelt sich um einen Machtdiskurs, mit dem nichtweiße Bevölkerungsgruppen gegen den „weißen“ Hegemonialdiskurs um öffentliche Geltung ringen. Würde man ihn mit weißen Menschen teilen, setzte man ihn der Gefahr aus, im Zeichen „weißer“ Selbstkritik absorbiert zu werden und damit eine überlegene Komplexität des „weißen“ Diskurses zu bestätigen.

Das Ziel besteht aber in dessen Marginalisierung. Die Weißseinsforschung ist weniger eine Wissenschaft als der Begründungsversuch für einen säkularen Ausgleich beziehungsweise eine Wiedergutmachung von „Weiß“ zu „Schwarz“. 

Der Schulddiskurs ist typisch europäisch

Der Vordenker der „schwarzen“ Emanzipation, Frantz Fanon, hatte in den 1950er Jahren ausdrücklich Nachkriegsdeutschland als Vorbild dafür herausgestellt, wie man im globalen Maßstab mit Europa respektive der „weißen“ Welt verfahren müsse. 1945 seien die europäischen Nachbarn sich einig gewesen: „Deutschland muß zahlen!“ Es hat gezahlt, wobei der geistig-moralische Obolus – das säkulare Schuldbekenntnis bis hin zur nationalen Selbstaufgabe – noch schwerer wiegt als der materielle. Deutschland hat lediglich eine Avantgarderolle übernommen. Der amerikanische Historiker Paul Gottfried stellt in seinem Buch „Multikulturalismus und die Politik der Schuld“ fest, daß es auch bei anderen westlichen Völkern üblich ist, „die eigenen nationalen Traditionen abzuwerten“. Gottfried beschreibt eine säkularisierte Religiosität, die auf historische Genauigkeit verzichtet und sich in der diversitären USA nach innen, gegen die „weiße“ Kultur richtet, welche die USA dominant geprägt hat.

Eine führende Vertreterin der Weißseinsforschung in Deutschland ist die an der Universität Bayreuth tätige Literatur- und Afrikawissenschaftlerin Susan Arndt. Unerbittlich dekretiert sie, Kant habe „eine Rassenhierarchie konstruiert (...) und den weißen Mann zum Zentrum und zur Norm (des Fortschritts) erhoben. Kants ‘Rassentheorien’ und Hegels ‘Geschichtsphilosophie’ wirken letztlich nicht nur als Legitimationsboden für Transatlantischen Sklavenhandel und Kolonialismus.“ Nein, auch für den Nationalsozialismus seien sie mittelbar verantwortlich. Tarsächlich sind Kants Schriften zur Rassenfrage von 1775, auf die Arndt sich bezieht, nicht der Weisheit letzter Schluß. Sie referieren das Wissen, das man im entlegenen Königsberg seinerzeit eben hatte. Der kategorische Imperativ bleibt davon unberührt.

Die Kant-Verehrerin Hannah Arendt schrieb noch in ihrem 1951 erschienenen Totalitarismus-Klassiker, die Eingeborenen Afrikas (und Australiens) seien „die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen (gewesen), von denen wir wissen, die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben“. Das sieht man heute differenzierter, was nichts daran ändert, daß der afrikanische Kontinent weder materiell noch staatlich-organisatorisch, kulturell oder geistig etwas Europa Ebenbürtiges vorweisen kann und ihm „das Wurzelschlagen im Sinnreich der Geschichte“  und „das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung“ (Carl Schmitt) bisher weniger gut gelungen ist. So bleibt der Weißseinsforschung nur der aggressive – auch autoaggressive – Schulddiskurs, der ebenfalls eine europäische Leistung ist.

Das Ressentiment tritt offen hervor bei Fatima El-Tayeb, eine promovierte Historikerin („Schwarze Deutsche: Der Diskurs um Rasse und nationale Identität 1890–1933“) und Drehbuchautorin, die gleichfalls als Weißseinsexpertin gilt. „Nirgendwo in der Welt kann man Menschsein denken, ohne sich in irgendeiner Art auf Europa zu beziehen. Europa selbst muß sich hingegen nie auf andere Teile der Welt beziehen und tut es auch nicht.“ Das ist nicht wahr, doch darum geht es ohnehin nicht. Es geht um die Legitimierung aktueller Ansprüche: „Nicht-weiße EuropäerInnen“ müßten aufzeigen, „daß wir nicht nur jetzt hier sind, sondern immer schon da waren.“

Der Althistoriker Egon Flaig hat für die universelle Bedeutung der europäischen, der „weißen“ Kultur eine knappe, schlagende Begründung gegeben: Sie ist die einzige, die sich einer wissenschaftlichen Wahrheit unterwirft. Sie hat „die Autonomisierung des politischen Raumes“ vorangetrieben, die Abschaffung der Sklaverei durchgesetzt und sich um universale Regeln für den Humanismus bemüht. Sie ist die einzige, die Selbstreflexion und Selbstkritik betreibt. Keine andere Kultur gesteht ihre „Schuld“ anderen gegenüber ein. Nur die europäische hat ein „Allinteresse“ an fremden Kulturen entwickelt.

Selbstverständlich muß sie neue Horizonte aufrollen, sich mit neuen Inhalten anreichern, Fremden Teilhabe gewähren. Doch ihre Dominanz abzuschaffen, gar noch im eigenen Haus, hieße, einen universalen Orientierungspunkt abzuschaffen und das Chaos heraufzubeschwören. Die Weißseinsforschung ist Voodoo mit wissenschaftlichem Anstrich.