© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Pegida einen Tag voraus
„Pulse of Europe“: Jeden Sonntag demonstriert die Bürgerinitiative für die Europäische Union
Lukas Steinwandter

Der Platz zwischen dem Französischen und dem Deutschen Dom hat sich in ein blaues Fahnenmeer verwandelt. Etwa tausend Menschen (laut Veranstalter knapp 3.000) demonstrieren auf dem Gendarmenmarkt in Berlin „für Europa“. Mit Europa meinen sie die Europäische Union. Es gibt kaum jemanden, der kein blaues Papierfähnchen mit den goldenen Sternen schwenkt. 

Schon zum vierten Mal rief die Bürgerinitiative „Pulse of Europe“ dazu auf, für die EU auf die Straße zu gehen. Denn der Brexit habe gezeigt, wohin es führt, wenn man „die Hände in den Schoß legt“, peitscht ein Sprecher die Teilnehmer an. 

„Wir stehen hier, um die EU zu erhalten“

„Wenn nicht alle, denen Europa wichtig ist oder die auch nur davon profitieren, aktiver werden und wählen gehen“, zitiert er aus den zehn Thesen des Bündnisses, „droht die europäische Union in Kürze zu zerfallen“. Der Frieden in Europa stehe auf dem Spiel. Damit scheint das Bündnis die Sorgen nicht weniger Menschen anzusprechen. Bei der ersten Kundgebung vor einigen Wochen waren es noch 200 Menschen, die dem Aufruf der Initiative gefolgt waren. An diesem Sonntag sind es laut eigenen Angaben rund 15.000 in über 30 Städten, darunter Amsterdam und Toulouse. „Wir stehen hier, um die Europäische Union zu erhalten“, ruft der Sprecher auf den Stufen vor dem Konzerthaus ins Mikrofon. 

Die Stimmung auf dem Platz ist gut. Die Teilnehmer würdigen die Redebeiträge mit viel Beifall und Fahnenschwenken. Unter ihnen befinden sich junge und alte Menschen, Familien mit Kindern, Lesben und Schwule. „Das hier ist die Mitte der Gesellschaft“, sagt Marie, die mit ihren Freundinnen an diesem Nachmittag nach Berlin-Mitte gekommen ist. Mehrere Helfer verteilen Wimpel und Flugzettel. Mit einem Lächeln im Gesicht überreicht ein blonder Mittdreißiger ein EU-blaues Fähnchen mit der Parole: „Gegen Nationalismus und für Europa.“

Unter den zahlreichen blauen Flaggen fällt eine ganz besonders auf. Ein stattlich gebauter Mann streckt eine EU-Fahne hoch gen Himmel. Auf dem Stab ist aber noch eine weitere befestigt: die schwarz-rot-goldene. „Ich bin für ein Europa, in dem die Nationen aufgehen“, sagt Christian. Er ist mit seiner Frau und den Kindern zu der Kundgebung gekommen. Mit Aufgehen meint er nicht Auflösen. „Die Nationen sollen bestehen bleiben, deshalb ja auch die Deutschlandfahne.“ Allerdings zähle nicht der Nationalstaat zuerst, sondern der Staatenverbund. 

„Im Idealfall wie in den USA, dort hat auch jeder Staat seine eigene Fahne“, erklärt der Familienvater, der bereits zum dritten Mal bei „Pulse of Europe“ dabei ist. Christian bezeichnet sich als Konservativen aus der Mitte. Einzelne europäische Nationen, sagt er, hätten in einer globalisierten Welt keine Chance. „Wenn Merkel nach China reist und einen Staat mit 80 Millionen Bürgern vertritt, macht das wenig Eindruck. Wenn sie aber Eu-                                                                   ropa mit über 500 Millionen Einwohnern repräsentiert, kann sie mehr bewirken.“ Viele Demonstrationsteilnehmer sagen das so. Das Zeitalter der Einzelstaaten sei vorbei. „Deutschland allein kann das Klima nicht retten, aber viele Länder zusammen können das“, sagt eine ältere Frau. Ein weiteres Anliegen ist für „Pulse of Europe“ die Wahrung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit. „Die Freiheit der Einzelnen, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sind weiterhin in ganz Europa zu gewährleisten. Auch in Zukunft muß in allen Lebensbereichen geltendes Recht verwirklicht werden.Unabhängige Gerichte müssen weiterhin ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen können. Staatliches Handeln darf nur auf Grundlage rechtmäßig erlassener Gesetze erfolgen.“

Deutschland müsse sich stärker in der EU beteiligen

Was die Initiative damit meint, erklärt ein Berliner Student am offenen Mikrofon. „Europa heißt für mich, wenn ich mit meinem polnischen Kommilitonen über den Eingriff der polnischen Regierung ins Verfassungsgericht diskutieren kann.“ 

Er fordert, Deutschland müsse sich stärker in der EU beteiligen, weil es von Europa sehr profitiert habe. Zudem müsse Europa politisch und wirtschaftlich mehr zusammenwachsen. „Eine Währungsunion ohne Fiskalunion funktioniert nicht.“ Daß die EU nach dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl näher zusammenrücken müsse, war auch der ursprüngliche Grund für die Frankfurter Rechtsanwälte Sabine und Daniel Röder, „Pulse of Europe“ zu gründen. 

Über soziale Netzwerke und Freunde organisierten sie Ende November 2016 in Frankfurt am Main die erste Kundgebung, an der etwa 200 Menschen teilnahmen. Die Europäer dürften nicht in Schockstarre fallen, warnte das Rechtsanwaltspaar.

Mehrfach betonen die Veranstalter in Berlin, „Pulse of Europe“ sei überparteilich und überkonfessionell. „Bedenken gegen die EU müssen gehört und an deren Ursachen muß gearbeitet werden, so daß Ängste in Zuversicht gewandelt werden können.“ Für die Initative beginnt diese Aufgabe schon damit, einen Tag früher als Pegida zu demonstrieren. Auf Facebook wirbt „Pulse of Europe“ dementsprechend auf einem Flyer: „Wir sind Pegida nicht nur einen Tag voraus.“