© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Schneller auf Krisen reagieren
Nato: Das Bündnis verstärkt – als „politisches Signal“ gen Moskau – seine Truppen im Baltikum
Paul Leonhard

Alte Frauen und Männer blicken mit leuchtenden Augen auf den Konvoi von Militärfahrzeugen. Begeistert winken sie mit Sternenbanner und weißroten Fähnchen. Kinder klettern auf die Panzer, junge Mädchen machen Selfies mit den Soldaten. In keinem anderen Land sind die US-Truppen so herzlich begrüßt worden wie in Polen. Die Präsenz der Amerikaner erhöhe die Sicherheit seines Landes, unterstrich der polnische General Jaroslaw Mika.

Begeistert sind auch die Balten. Mit den USA haben sie einen Verbündeten, der ihre Sicherheit vor dem mächtigen Rußland garantiert. Alle drei baltischen Staaten unterzeichneten inzwischen Abkommen, die den Einsatz von US-Soldaten, gemeinsame Militärübungen und sonstige Verteidigungsprojekte erleichtern. In Auswertung der Nato-Manöver in Nordosteuropa in den vergangenen Jahren lernten die Amerikaner, daß sie nur durch eigene Präsenz auf potentielle Krisen schnell reagieren können.

Auf die „Verletzung des Völkerrechts“ reagieren

Deswegen sind sie derzeit dabei, nicht der Nato unterstellte Kampfgruppen im Baltikum und Osteuropa zu stationieren. Die Maßnahmen würden zur Abwehr von Aggressionen und zur Verteidigung der Verbündeten und Partner in Europa erfolgen, erklärte Generalleutnant Ben Hodges, Kommandeur der US Army Europa, im November, als erstmals Details über die verstärkte Präsenz der Amerikaner bekannt wurden. Seit Januar wird eine Panzerbrigade mit 4.000 Soldaten und 2.000 Fahrzeugen für neun Monate nach Europa verlegt.

Es ist der Auftakt einer permanenten Rotation von in den USA stationierten Panzerbrigaden nach Europa und auch eine Demonstration der Amerikaner, daß sie ohne die Nato agieren können. Europäisches Hauptquartier der Panzerbrigade wird das schlesische Sagan (Zagan), von dem die Truppen auf sieben europäische Länder verteilt werden. Geplant sind Einsätze im Baltikum sowie in Bulgarien und Rumänien. Sie sollen „für eine kontinuierliche Präsenz bewaffneter US-Streitkräfte am Schwarzen Meer  sorgen“.

Die Panzerbrigade wird durch eine Heeresfliegerbrigade flankiert, die mit ihren Kampf- und Transporthubschraubern bei Manövern in Lettland, Rumänien und Polen zur Abschreckung beitragen soll. Ende März soll diese für neun Monate ins deutsche Illesheim verlegt werden. Beide Brigaden stehen ausschließlich unter US-Kommando. Gleichzeitig werden seit September durch die US Army zusätzliche Depots in Deutschland, Belgien und den Niederlanden angelegt, in denen Ausrüstung und Munition für eine Panzerdivision eingelagert werden.

Rußland, das die seit der Krim-Annexion 2014 verstärkten Militärübungen der Allianz an seinen Grenzen mit Argwohn verfolgt, fühlt sich von den Aktionen der USA nicht abgeschreckt, sondern in seiner Sicherheit bedroht. Vor allem, „weil es sich um eine dritte Partei handelt, die ihre militärische Präsenz in der Nähe unserer Grenzen aufbaut“, sagte der Präsidentensprecher Dimitri Peskow Ende Januar. Mit der Nato-Mitgliedschaft der Balten, die überdies den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) nicht unterzeichnet hätten, sei ein Nato-Aufmarschgebiet entstanden, das keinen rechtsverbindlichen Begrenzungen unterliege.

Wenn Moskau nach zwei Jahren der Konflikte in der Ukraine erkenne, daß die Nato nicht in „irgendeiner Weise reagiere, würde es den Kreml eher „ermutigen“, hält der litauische Oberstleutnant Valdas Dambrauskas dagegen. Rußland stationiere in Grenznähe neue Regimenter, setze weitreichende Waffensysteme ein, und die Nato reagiere „mit einem Bataillon“, so der Litauer. Dies könne in „keinem Fall als aggressiv verstanden werden.“ Die Stationierung des von der Bundeswehr (Panzergrendierbataillon 122) geführten multinationalen Verbandes im litauischen Rukla sei lediglich ein „politisches Signal“. 

Norwegens Verteidigungsministerin Ine Marie Eriksen Søreide unterstreicht diese Sichtweise: Die Nato müsse auf die neue Sicherlage, hervorgerufen durch die „Verletzung des Völkerrechts“ durch Rußland auf der Krim, angemessen reagieren. 

Warnung vor zunehmender Destabilisierung der Region

Die Nato hatte auf ihrem Warschauer Gipfel im Juli 2016 die dauerhafte Stationierung von vier Nato-Bataillonen mit jeweils 1.000 Soldaten in Polen und dem Baltikum beschlossen. Damit geht sie an die Grenzen dessen, was die 1997 unterzeichnete Nato-Rußland-Grundakte zuläßt. In dieser hatte die Allianz zugesichert, keine zusätzlichen Kampfgruppen dauerhaft zu stationieren. Hardliner fordern aber gerade das. Sie fordern die dauerhafte Stationierung von bis zu acht schweren Kampfbrigaden.

Die permanente robuste Vorneverteidigungsstruktur unmittelbar an den russischen Grenzen „könnte die destabilisierende Abfolge militärischer Aktionen und Reaktionen im Verhältnis zwischen Moskau und der Allianz weiter befeuern“, warnte Wolfgang Richter von der Forschungsgruppe „Sicherheitspolitik“ des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit. Allein ein Festhalten an der Nato-Rußland-Grundakte und die Erneuerung der Rüstungskontrolle könnten helfen, dies zu vermeiden.

Insbesonders die in Anzahl und Umfang vervielfachten Manöver in Osteuropa, in der Ostsee und im Schwarzen Meer haben das Risiko erhöht, daß sich aus ihnen heraus mangels Transparenz und direkter bilateraler Kontakte ein militärischer Konflikt entwickeln könnte. Klar wurde auch, daß die Nato kein monolithischer Block ist, sondern ein „Bündnis aus nationalen und technischen Inseln“, wie die Zeit im Juni genüßlich analysierte: „Der Westen zeigt Putin, welch leichtes Spiel er mit ihm hätte.“ 

Gemeint war das nach der Würgeschlange Anakonda benannte Nato-Großmanöver in Polen. Kann man über unheitliche Tankstutzen, benötigte Durchfahrt- und Zollgenehmigungen und fehlende Eisenbahnwaggons noch spotten, so wurde etwas anderes klar: Die Nato ist aktuell nicht in der Lage, über eine Entfernung von 1.600 Kilometern einen Überraschungsangriff auf Lettland oder Estland abzuwehren. Der Ausweg aus diesem Dilemma soll nun die Stationierung der vier multinationalen Nato-Bataillone im Baltikum sein.

Ein Aggressor werde so mit den „strategischen Konsequenzen seines Handelns“ konfrontiert, daß er bei einem „Angriff stets auf das ganze Bündnis stoßen und eine kollektive Reaktion auslösen“ werde, findet Ex-Bundeswehr-Oberst Richter. Das sei eine glaubhafte Abschreckung. 

Sollte aber das Bündnis seine Stationierungszurückhaltung aufgeben, würde dies das Ende der Nato-Rußland-Grundakte bedeuten, das wechselseitige Mißtrauen vertiefen und militärische Gegenmaßnahmen Rußlands zur Folge haben.