© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Unbegrenztes Wachstum
Bildung: Der anhaltende Boom der Privatschulen stößt nicht immer nur auf Zustimmung
Christian Schreiber

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Privatschulen in Deutschland stark gestiegen. Bildungsexperten warnen daher sogar seit einiger Zeit vor einer Zwei-Klassen-Schule. Im Schuljahr 2015/16 gab es einer Studie des Statistischen Bundesamtes zufolge 5.814 allgemeinbildende und berufliche Privatschulen in Deutschland. Das bedeutet einen Zuwachs von mehr als 80 Prozent im Vergleich zum Schuljahr 1992/93. Es sei ein anhaltender Anstieg privater Schulen im gesamten betrachteten Zeitraum zu beobachten. Die Anzahl der Privatschulen erhöhte sich sogar dann noch weiter, als die Gesamtzahl aller Schulen aufgrund der drastisch gesunkenen Geburtenzahlen Ende der neunziger Jahre verringert wurde. So sank von 2000 bis 2015 die Zahl der Schulen um 18 Prozent, die Zahl der Privatschulen stieg jedoch im selben Zeitraum um 43 Prozent.

Schulgeld zwischen 150 und mehreren tausend Euro

In der öffentlichen Wahrnehmung gelten Privatschulen vor allem als Schulen einer wohlhabenden Elite. Tatsächlich ist die Privatschullandschaft jedoch außerordentlich vielfältig. Die Schulgeldkosten pro Monat variieren entsprechend zwischen 150 und mehreren tausend Euro. Die Kant-Oberschule in Berlin-Steglitz erhebt zum Beispiel bei der Aufnahme eine einmalige Gebühr in Höhe von 250 Euro. Das Schulgeld für die Sekundarstufe I bis einschließlich der 11. Klassenstufe beträgt jährlich 5.040 Euro und kann in monatlichen Raten à 420 Euro entrichtet werden. Für die Klassenstufen 12 und 13 der Sekundarstufe II werden pro Jahr 5.160 Euro erhoben. Im Schulgeld enthalten sind die Kosten für die ganztägige Betreuung, das warme Mittagessen und Getränke sowie die Schulbücher. Die Waldorfschule, mit ihren mittlerweile 235 Einrichtungen im Land, berechnet rund 500 Euro pro Jahr, allerdings kann der Betrag auf Antrag gemindert werden. 

Das Recht Privatschulen zu betreiben, gewährt das Grundgesetz. „Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen“, heißt es in Artikel 7.

Die Genehmigung sei zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. 

Ob dieser Punkt so eingehalten wird, daran bestehen allerdings Zweifel. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung soll belegen, daß vor allem die „soziale Durchmischung“ nicht eingehalten werde.

Aus der bisherigen Rechtsprechung leiten die Forscher neun Grundsätze ab, die eine effektive Einhaltung des Sonderungsverbots gewährleisten müßten. Dazu zählen unter anderem eine Konkretisierung des Sonderungsverbots in Landesgesetzen, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften; die Benennung einer Höchstgrenze für das Schulgeld; die Befreiung vom Schulgeld für Geringverdiener und Sozialleistungsempfänger sowie die Kontrolle der Aufn ahmepraxis. Von den 16 Bundesländern erfüllen nur Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zumindest fünf der neun Grundsätze. Bundesländer wie Thüringen oder Bremen beachten keine dieser Vorgaben.

Die Mehrheit der Länder konkretisiert das Sonderungsverbot nicht in eigenen Landesgesetzen. Für Genehmigungsbehörden und Schulträger ist somit nicht klar, wie Schulgelder ermittelt und bis zu welcher Höhe sie erhoben werden können. „Diese gesetzliche Nicht-Regelung fordert eine uneinheitliche Verwaltungspraxis geradezu heraus“, schreiben die Forscher.

Migrantenanteil an den Schulen eher gering

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann sieht derzeit noch keinen Grund zum Alarmismus. Anders als in Frankreich oder England, wo es in der Tat eine Zweiklassengesellschaft im Bildungssystem gebe, sei man in Deutschland davon noch weit entfernt. 

„Die privaten Schulen haben dennoch einen enormen Zuwachs. Der Anteil der Schüler an diesen Schulen wächst deutlich stärker als an allen anderen öffentlichen Schulen. Da ist eine gewisse Strömung in diese Richtung da. Eltern möchten durchaus Geld bezahlen für eine gute Ausbildung, wenn sie irgend können, und deswegen ist der Privatschulsektor auch bei uns gewachsen. Das muß man kritisch betrachten, denn noch mehr Ungleichheit können wir nicht gebrauchen“, sagte er in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. 

Die Ursprünge der Privatschulen gehen in Deutschland auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurück. Die Bundesrepublik tat sich zunächst schwer mit der Regelung. In den Nachkriegsjahren entstanden die Schulen eigentlich nur dort, wo es einen Mangel an Gymnasien gab und der Staat hier nicht schnell genug Abhilfe schaffen konnte. 

Zudem gab es immer einen gewissen Prozentsatz an sogenannten Förderschulen, die zumeist von christlichen Einrichtungen getragen wurden. Ende der neunziger Jahre kommt Bewegung in die Privatschulszene. Zwischen 1992 und 2012 stieg auf Bundesebene die Anzahl der Privatschulen deutlich an. Die Zahl der Privatschüler stieg in den letzten zwanzig Jahren von gut 445.000 auf knapp 731.000, also um nahezu zwei Drittel.

 Von allen privaten Schulen in Deutschland zählten im Schuljahr 2015/16 rund drei Fünftel zu den allgemeinbildenden Schulen und die restlichen zwei Fünftel zu den beruflichen Schulen. Bezogen auf die Gesamtzahl der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen (42.336) waren 14 Prozent der Schulen in privater Trägerschaft. Der Anteil der Privatschulen war bei den allgemeinbildenden Schulen mit 11 Prozent deutlich niedriger als bei den beruflichen Schulen (25 Prozent). Dabei lag der Anteil der privaten allgemeinbildenden Schulen in Mecklenburg-Vorpommern mit 18 Prozent am höchsten und in Niedersachsen mit 5,9 Prozent am niedrigsten. 

Von den mehr als 700.000 Schülern an privaten allgemeinbildenden Schulen wurden im Schuljahr 2015/16 36 Prozent in Gymnasien unterrichtet, gefolgt von Realschulen (14 Prozent), Grundschulen (13 Prozent) und Freien Waldorfschulen (11 Prozent). 

Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung kommt allerdings zu dem Schluß, daß das Vorurteil, Privatschulen seien besonders exklusiv und würden ausschließlich von reichen Eltern gewählt, nicht zutreffend ist. Dies belegten allein die verschiedenen Schulformen in der Privatschullandschaft. „Die Vielfalt verweist zugleich auf unterschiedliche Motive der Schulwahl. Natürlich gibt es die einkommensreichen, häufig beruflich erfolgreichen Akademikereltern, die hochkomplexen beruflichen Tätigkeiten nachgehen und für ihre Kinder bevorzugt alternativ-reformpädagogische, möglichst internationale Schulen oder leistungsorientierte Gymnasien auswählen“, heißt es. Die Privatschule komme ihren pädagogischen Orientierungen entgegen, entspreche dem Wert, den sie neben Leistung auf Individualität und Selbstentfaltung legen, diene aber natürlich auch dem Statuserhalt. „Daneben steht eine zweite Gruppe von Eltern. Sie haben vorwiegend mittlere Bildungsabschlüsse, arbeiten in fachlich ausgerichteten Tätigkeiten und wählen für ihre Kinder Schulen, oft mit konfessioneller Prägung, die mehrere Bildungsgänge vereinen: Gesamtschulen, Haupt- und Realschulen oder Realschulen mit Gymnasialzweig.“ Diesen Eltern gehe es vorrangig darum, daß sich ihre Kinder solides Wissen und soziales Verhalten aneignen können. Dabei legten sie großen Wert darauf, daß die Kinder den richtigen sozialen Umgang pflegen. Eltern dieser Gruppe seien häufig soziale Aufsteiger und daran interessiert, daß es ihre „Kinder mal besser haben. Dafür setzen sie ihre Ressourcen ein und lassen sich die Schule etwas kosten.“

In jüngster Zeit kristallisiere sich zudem eine dritte Gruppe von Eltern heraus, die oft selbst in pädagogischen Berufen tätig seien und ihr besonderes Augenmerk auf die Kindheitsphase legen und sich in einer der zahlreichen Initiativen für alternative Grundschulen zusammenfinden. „Sie wünschen ihren Kindern eine unbeschwerte glückliche Schulzeit, in der Lehrerinnen und Lehrer der Individualität der Kinder entgegenkommen und sie möglichst ohne Zwang, aber dennoch optimal fördern. Sie haben eine Schule im Sinn, die ein mögliches Scheitern gar nicht erst zuläßt und den eigenen hohen Anspruch der Eltern an eine gelingende Erziehung unterstützt.“

Also alles eitel Sonnenschein auf dem „Markt der privaten Bildung“? Wohl kaum. In Berlin streitet sich die regierende SPD gerade über die Kontrolle von zwölf „Freien Schulen“, die vor wenigen Jahren in ein sogenanntes „Brennpunktschulprogramm“ aufgenommen wurden. 

Die Autoren der WZB-Studie werfen vor allem den Berlinern schwere Versäumnisse bei der Kontrolle der Schulen vor. In der Hauptstadt fehle nicht nur die Höchstgrenze, Privatschulen werde sogar zugestanden, 100 Euro und mehr monatliches Schulgeld von Hartz-IV-Empfängern zu erheben. Die tatsächliche Aufnahmepraxis an den Privatschulen werde nicht überprüft. „Es besteht die Gefahr, daß die Schulen Kinder von Eltern mit hohem Einkommen faktisch bevorzugen, da sie so höhere Einnahmen für den laufenden Betrieb, auch unabhängig vom Schulgeld, erhalten“, so die Professoren. Sie denken dabei an die verbreitete Spendenpraxis. Die Bildungsverwaltung will die Ergebnisse der Studie nun prüfen. Ein Streifzug durch die Bundesländer zeigt, daß die Akzeptanz von Privatschulen steigt. 

In Baden-Württemberg ist die grün-schwarze Koalition gerade dabei, die finanzielle Ausstattung deutlich aufzustocken. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz lobte die Schulen in freier Trägerschaft als „Bereicherung“ der Bildungslandschaft. Allerdings sei eine solide finanzielle Ausstattung ebenso wichtig wie eine Kontrolle der Lehrinhalte und der Aufnahme der Schüler.

 Vor allem letzteres birgt in Zukunft jede Menge Zündstoff. Denn der Anteil der Migrantenkinder ist mit 6,1 Prozent bisher äußerst gering. Daß dies auch ein Argument für die Anmeldung eines Kindes auf einer solchen Schule sein kann, wird bislang noch nicht diskutiert. Auch die Frage, wie der Staat mit Einrichtungen unter muslimischer Trägerschaft umgehen wird, muß noch beantwortet werden. 

Die Autoren der Studie des Statistischen Bundesamtes haben zudem herausgefunden, daß die Klassenstärke in Privatschulen fast immer geringer ist als in staatlichen. Dies gebe den Eltern das Gefühl, daß sich mehr und besser um die Kinder gekümmert werde, schreiben die Autoren. Die Bundeszentrale für politische Bildung sieht hierin einen besorgniserregenden Trend. Das System der „Privaten“ sei dazu da, die „Staatlichen“ zu ergänzen. „Wenn es immer mehr darauf hinausläuft, sie zu ersetzen, wird es am Ende doch eine finanzielle Frage sein.“