© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Frei von Regularien und Normen
Hochschule: An der Berliner Humboldt-Universität hielten Studenten fünf Wochen lang einen Raum besetzt
Martin Voigt

Komm doch mit rein“, sagt die Studentin, lächelt und schlüpft durch die Tür, die von einem Holzkeil aufgehalten wird, damit sie das Stromkabel nicht abquetscht. Der fensterlose Raum ist hell erleuchtet, ein Wasserkocher zischt und sprudelt vor sich hin, ein paar Studenten sitzen im Kreis auf Stühlen und alten Sofas. Angespannt und konzentriert diskutieren sie und blicken kaum auf. Eine Theatergruppe kurz vor der Premiere? Eine Lerngemeinschaft kurz vor der Prüfung? Nein, es geht um etwas viel Ernsteres – um Selbstbehauptung. Um eine Selbstbehauptung, die sich erproben will, und dafür das nächstgelegene „Herrschaftssystem“ auserkoren hat. Im Falle der studentischen Zusammenkunft ist dies die Leitung der Humboldt-Universität in Berlin (HU). Auf universitärem Hoheitsgebiet halten sie einen Seminarraum besetzt. 

Es geht um Raum 004 im Institut für Sozialwissenschaften (ISW). Für das Grüppchen, das sich in 004 eingerichtet hat, ist er Zankapfel, Bollwerk und Schutzraum, wie eine eigene Insel im Meer der alles beherrschenden Uni-Leitung. Nach Wochen der Besetzung sollen sie da aber langsam mal raus. Den Strom hat die HU kürzlich abgestellt. Deswegen das Kabel. Man munkelt, „die Uni“ will die Steckdosen auf dem Flur mit einem Schloß versperren. „Ich werde auch ohne Strom bleiben“, ruft ein junger Mann, der im Schneidersitz auf der Couch hockt. Es ist wie ein Kräftemessen zwischen Vater und Sohn. Ein wenig genervt, aber im Grunde stolz der Alte, provokant und etwas über die Stränge schlagend in dem Wissen, keine dramatischen Konsequenzen befürchten zu müssen, der Junge.

Das Ziel ist ein „selbstverwalteter“ Raum

Zur Protestzone gehörte einst das gesamte Erdgeschoß, als die Clique am 18. Januar mit der Besetzung anfing, um ihren gekündigten Lieblingsdozenten Andrej Holm wiederzubekommen. Holm war wegen seiner Stasi-Vergangenheit und Verbindungen zu gewaltbereiten Linksradikalen seinen Uniposten losgeworden (JF 4/17). Die Revolte gewann an Dynamik, und Holm wurde zu der Nebensache, die er von Anfang an war, denn das Grüppchen fand immer mehr Gefallen aneinander. Gemeinsam gegen die Mächtigen, das schweißt zusammen.

Auch als Holms Kündigung in eine Abmahnung umgewandelt worden war, ging die Institutsbesetzung zunächst weiter und endete offiziell erst am 16. Februar. Ein harter Kern hielt aber fortan Seminarraum 004 in Tages- und Nachtschichten besetzt. Minimalziel war es nun, einen Raum zu behalten, irgendeinen. Am gemeinsamen Refugium hängt ein bißchen das Selbstverständnis derjenigen, die sich da zusammengefunden haben. Es muß auch nicht 004 sein, aber selbstverwaltet muß er sein. Beim Stichwort „selbstverwaltet“ heben alle im Diskussionskreis ihre Arme auf Kopfhöhe und schütteln ihre Hände. Das ist das vereinbarte Zeichen für Zustimmung, lautlos im Sinne der Diskussionskultur und identitätsstiftend. Bloß keinen Raum mit der Fachschaft zusammen, man will sich schließlich nicht gegeneinander ausspielen lassen. 

„Lächerlich, es ist doch einfach nur lächerlich“, schimpft eine Studentin mit kurzen Haaren, klarer Sprache und wachem Blick. Sie ist die Wortführerin und macht Notizen auf einem Clipchart. „Es kann doch nicht sein, daß die riesige HU nicht einen Raum für uns hat.“ Wieder schütteln die Mädchen und Jungen zustimmend ihre Hände vorm Gesicht. Der Laptop, auf dem das Protokoll der Sitzung entsteht, wird reihum gereicht. Immer wieder steht jemand auf, schmiert sich ein Brötchen, macht sich einen Tee oder schaufelt frisch gekochte Spaghetti in eine Tasse. Mehrere Sofas stehen an den Wänden. Ein junger Student ist eingenickt.

Adiletten, Jogginghosen und Leggins sollen deutlich machen, daß man sich zu Hause fühlt. Soja- und Kuhmilch stehen in getrennten Regalfächern. Vom Diaprojektor des zweckentfremdeten Seminarraums baumelt ein künstlerisch indefinites Gebilde aus Alufolie. „Make Feminism a Threat again!“ steht auf einem Plakat, „Stadt von unten“ auf einem Stoffbanner, aber die wichtigste Botschaft prangt in großen, hellen Buchstaben auf einem dunklen Tuch über die halbe Zimmerlänge: „Unser Raum“.

Jeder ist eingeladen, mit dabei zu sein. Beim Essen darf man sich bedienen, aber eine WG mit fluktuierender Belegung ist nicht das Ziel. „Wir wollen hier nicht pennen, oder so“, erzählt die Anführerin später. Auf der Facebook-Seite „Holm bleibt“ sind die Forderungen der anonymen Gruppe „Uni von unten“ ausformuliert: „Von Beginn an fordern wir einen Raum zur studentischen Selbstorganisierung und emanzipatorischen Vernetzung auf dem Campus Mitte der HU.“ Man sei nicht damit einverstanden, „daß politische Entscheidungen alleine von Hochschulleitungen und Regierungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen werden“. 

Uni schätzt Höhe der Schäden auf 30.000 Euro

Der angeeignete Raum solle „die Möglichkeit zur Selbstorganisation und Basisdemokratie“ bieten. Man will sich vernetzen mit erfahrenen Hausbesetzern und Demos planen. „Ob hochschul- oder stadtpolitische Gruppen, ob verdrängte Mieter*innen oder prekarisierte Mitarbeiter*innen der Hochschulen: sie alle brauchen Räumlichkeiten, um die nächste Aktion für ein Recht auf Stadt und eine Uni von unten zu planen“, schreiben die „Nutzer*innen des selbstverwalteten Raums 004“ gendergerecht auf Facebook. Diese direkte Demokratie brauche weder Parlamente noch Senate, sondern „die Selbstorganisierung der politischen Subjekte“.

Der Fachschaftsraum oder ein Studentencafé eigneten sich dafür nicht, da sie nicht „frei von Regularien und Normen der Hochschule“ seien. Versöhnlich folgt ein Schuß Sozialromantik: Stadt und Uni wolle man über diesen Raum wieder zusammenbringen, denn er soll inmitten des von Gentrifizierung am stärksten betroffenen Stadtteils dazu dienen, „die Entstehung von kritischer Bildung und Bewegung zu fördern und zu gewährleisten“. 

004 repräsentiere das Recht auf Stadt, etwas, das es in Mitte kaum noch gebe: „Einen Raum, in dem Menschen nicht konsumieren müssen, um sich dort aufzuhalten und mitzuentscheiden, sondern in dem ein solidarisches Miteinander als Voraussetzung praktiziert wird.“ Der Umsetzung wohlfeiler Theorie in die Praxis wurde nun endgültig der Strom abgedreht. Am 26. Februar haben die anonymen Studenten 004 verlassen, ohne ihr Minimalziel durchzusetzen. Übrig bleiben lediglich Kosten für die Universität. In einer Stellungnahme schreibt sie angesichts der mit Farbe und Parolen beschmierten Wand- und Bodenflächen von Vandalismus. Zudem seien Sanitäranlagen defekt und Räume vermüllt. Die Höhe der Schäden schätzt die HU auf mehr als 30.000 Euro.

Von seiten des Präsidiums, des Dekanats, der Institutsleitung und Vertretern des Berliner Abgeordnetenhauses habe es „unzählige Gespräche und Verhandlungen mit den protestierenden Studierenden und der Besetzergruppe gegeben“, zeigt sich die HU enttäuscht. „Unterstützung zum Erhalt der kritischen stadtsoziologischen Perspektive in vielfältigen Formen“ und „zusätzliche Projekttutorien mit kritisch-stadtsoziologischem Schwerpunkt“ seien den Besetzern angeboten worden. Immer wieder scheiterten die Gespräche. Ihren Strafantrag wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung wollte die HU bis zuletzt zurückziehen, sofern die Besetzung bis zur erneuten Fristsetzung am 24. Februar beendet worden wäre. Der Strafantrag hat nun Bestand.

Die HU muß letztlich ihr Gesicht wahren und den jungen Trotzköpfen die Stirn bieten. „Wir haben nicht aufgegeben, sondern der Raum wurde uns weggenommen, weil wir dort nicht mehr übernachtet haben“, schildern jene dem Tagesspiegel ihre Sicht auf die zugespitzte Situation. Noch am Samstag abend hätten sie sich in 004 aufgehalten, doch als sie sich Montag früh zu einem Brunch treffen wollten, sei die Tür verschlossen gewesen. Das pubertäre Autonomiestreben soll trotzdem weitergehen: „Wir behalten uns vor, wiederzukommen“, kündigen die ausgesperrten Besetzer in dem Blatt an.