© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Faktor Feigheit
„Die Getriebenen“: Robin Alexander legt ein fulminantes Enthüllungsbuch über das Versagen der Bundesregierung in der Asylkrise vor
ChristianVollradt

Es mag vielleicht etwas sehr gewagt erscheinen – wir befinden uns schließlich erst im März – dennoch soll hier behauptet werden: Robin Alexanders „Die Getriebenen“ ist das politische Sachbuch des Jahres 2017. 

Detailliert und kenntnisreich schildert der Hauptstadtkorrespondent der Welt am Sonntag die Chronologie der 180 Tage zwischen Merkels Grenzöffnung im September 2015 und der Schließung der Balkanroute beziehungsweise dem Aushandeln des EU-Türkei-Deals im Frühjahr 2016. Das Ganze liest sich dabei spannend wie ein Politthriller, tatsächlich ist es auch einer – nur eben ein realer. Mit zahlreichen in- wie ausländischen Akteuren der fraglichen Zeit hat Alexander gesprochen, eine Voraussetzung dafür, daß eine derart genaue Rekonstruktion der Ereignisse gelingen konnte. Ein „Gruppenporträt in Nahaufnahme aus dem Maschinenraum der Macht“ nannte es der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der das Buch am Montag vor Journalisten vorstellte. 

Wer meint, Merkels Flüchtlingspolitik folge einer Art „Masterplan“, findet bei Alexander keine Bestätigung. Im Gegenteil. Und das macht die Sache eigentlich noch schlimmer. Denn die Regierung laviert kurzfristig, opportunistisch. Getrieben von einer Welle des Mitgefühls im Inland einerseits und der Entscheidung der ungarischen Regierung andererseits, in Budapest gestrandete illegale Einwanderer Richtung Österreich und Bundesrepublik zu schicken, öffnet Berlin die Grenzen am 4./5. September 2015 quasi bedingungslos. 

Diese Entscheidung sollte, so fand Alexander heraus, am 13. September um 18 Uhr rückgängig gemacht werden: durch die Einführung von Grenzkontrollen. Flüchtlinge ohne Papiere sollten „auch im Falle eines Asylgesuchs“ zurückgewiesen werden. Die Bundespolizei stand bereit. Als rechtliche Bedenken geäußert wurden, verlangte Merkel von Innenminister de Maizière die Zusage, daß „die Grenzschließung vor Gerichten Bestand haben würde und es außerdem keine öffentlich schwer vermittelbaren Bilder“ vom Einsatz gegen Flüchtlinge gebe. Der Innenminister läßt schließlich den Einsatzbefehl umschreiben und den entscheidenden Passus („auch im Falle eines Asylgesuchs“) streichen. 

Alexander: „Die Zurückweisung von Flüchtlingen scheiterte im Herbst 2015 also nicht, wie bisher vermutet, an mangelndem politischem Willen. Vielmehr war die politische Entscheidung dafür bereits gefallen. Es fand sich in der entscheidenden Stunde nur kein führender deutscher Politiker, der bereit war, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“ 

Von Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel stammt der treffende Satz, man dürfe in der Politik den Faktor Dummheit nicht unterschätzen. Den Faktor Feigheit offenbar auch nicht. Aus der Ausnahme wurde also der Ausnahmezustand. Dabei hatte Merkel gut einen Monat, bevor sie ihr verheerendes „Wir schaffen das!“ postulierte, noch das genaue Gegenteil behauptet: „Wenn wir jetzt sagen ‘Ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen’, das, das können wir auch nicht schaffen“, äußerte sie in einem „Bürgerdialog“ im Juli 2015. 

Von der bald folgenden „Refugees welcome“-Stimmung ließen sich auch die anstecken, deren Aufgabe das kritische Hinterfragen gewesen wäre: die Medien. Und Alexander verleugnet nicht, er habe in einem Kommentar für die Welt die britische Regierung aufgefordert, ihre restriktive Flüchtlingspolitik zu verändern. ?

Das Kapitel, das die heiße Phase des Türkei-Deals beschreibt, ist nicht ohne Grund mit „Unterwerfung“ überschrieben. Merkel brauchte eine schnelle Lösung – Silvester in Köln hat das Ende der Willkommenskultur manifestiert. Die Türken können ihre Bedingungen diktieren: Geld und eine vorgezogene Visaliberalisierung. Und Merkel geht darauf ein. Sie liefert sich ein Fernduell mit Wiens Außenminister Sebastian Kurz. Die von ihm präferierte Lösung der geschlossenen Balkanroute hätte Merkels Deal mit der Türkei obsolet gemacht. „Merkel kämpft in Brüssel im Kern nicht mehr um offene oder geschlossene Grenzen, sondern darum, ihr politisches Narrativ aufrechtzuerhalten.“ 

Dabei habe Merkel, so analysiert Alexander, im Laufe der Krise diese Erzählung mehrfach verändert: erst argumentierte sie „humanitär“ („Ehre Europas aufrechterhalten“), dann mit der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“, man könne Grenzen heutzutage nicht mehr schließen; und schließlich mit einer angeblichen Strategie, Deutschland müsse zeitweilig die Flüchtlinge allein aufnehmen, um Zeit für die Suche nach einer „europäischen“ Lösung zu verschaffen – die es so bis heute nicht gibt. 

Robin Alexander macht auch deutlich, daß diese Politik einen Preis hat. Deutschland wird sich nachhaltig verändern. Merkels Entscheidung zur „bedingungslosen Grenzöffnung“ sei in ihrer Tragweite durchaus vergleichbar mit Adenauers Westbindung, Brandts Ostpolitik und Kohls Weg zur Wiedervereinigung. Sie werde „die soziale und ethnische Struktur der deutschen Bevölkerung nachhaltig verändern“. Außerdem sei in der Bundesrepublik „das alte Parteiensystem zerbrochen. Zum ersten Mal seit 1945 ist rechts von der Union eine relevante politische Kraft entstanden, die AfD.“ Außerdem habe Merkel Deutschland in Europa zeitweise völlig isoliert. 

Einer der hartnäckigsten Gegenspieler Merkels in diesem Drama ist Viktor Orbán. Wie die deutsche Kanzlerin ist auch Ungarns Premier im kommunistischen Ostblock aufgewachsen, beide führen unangefochten eine Regierungspartei aus dem Lager der Christdemokratie. Doch darin erschöpfen sich schon die Gemeinsamkeiten. Alexander diagnostiziert bei ihnen vollkommen unterschiedliche politische Visionen. Für Merkel sei Europa eine „multikulturelle Wertegemeinschaft“, angekommen in der Globalisiserung. Orbáns Europa sei „ein Kontinent von christlichen Nationalstaaten“. 

„Keine Bundestagsdebatte, kein Kabinettsbeschluß“

Europa ist „politisch unsicherer geworden“. Der Brexit des Jahres 2016 kann zweifelsohne in die Bilanz der Politik Merkels im Jahr 2015 eingepreist werden. „Aber die Unsicherheit ist auch existentiell“, resümiert Alexander weiter. „Die Terroristen, die am 13. November 2015 in Paris 130 Menschen töteten, tarnten sich als Flüchtlinge.“ Genauso wie Anis Amri, der vergangenes Jahr zwölf Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz ermordete. 

Noch etwas wird in der Flüchtlingspolitik Merkels erkennbar: Der Trend zur De-Parlamentarisierung setzt sich fort. Wie schon bei der Euro-Rettung, bei der unvermittelten Kehrtwende zum Atom-Ausstieg oder der Aussetzung der Wehrpflicht. „Keine Bundestagsdebatte, kein Kabinettsbeschluß, kein Parteitag und kein Wahlsieg hat legitimiert, was an diesem 4. September seinen Anfang nimmt.“ 

„Der Bundestag wird zwar immer größer, hat jedoch immer weniger zu sagen“, so Autor Alexander bei der Buchvorstellung am Montag. Dort meinte FDP-Chef Lindner gar, das Buch ersetze quasi einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Das trifft mit Blick auf die Brisanz dessen, was Alexanders akribische Recherchen zutage förderten, zweifelsfrei zu. Von der Bundesregierung liegt keine Stellungnahme dazu vor. Warum Alexanders Veröffentlichungen keinen Untersuchungsausschuß nach sich ziehen, wird Lindner gefragt. Weil im Bundestag ein Mangel an Opposition herrsche, lautet seine Antwort. 

Daß sich dies demnächst wohl ändern wird, könnte wenigstens eine erfreuliche Folge der Merkelschen Politik sein. 

Robin Alexander: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 288 Seiten, 19,99 Euro