© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Helen Keller hätte von der heutigen Inklusion nichts
Ineffektives Milliardengrab: Die tatsächlich Behinderten sind die Leidtragenden der Gleichmacherei
Martina Meckelein / Martin Voigt

Helen Keller war 16 Jahre alt, als sie 1896 zum ersten Mal das Cambridger Mädchengymnasium betrat. Vier Jahre später begann sie ihr Studium an der Harvard-Universität, machte wiederum vier Jahre später ihren Uni-Abschluß. Helen Keller war taubblind. Ihre Lehrerin Anne Sullivan saß in der Schule und später an der Uni neben ihr und tippte die Vorlesungen mittels einer Art Morsealphabet mit ihren Fingern in Kellers Handfläche. Später als Schriftstellerin beschrieb Keller anschaulich ihr Leben, bevor sie ihre Lehrerin Anne Sullivan traf. Sie läßt den sehenden und hörenden Menschen teilhaben an einem beängstigenden und schier hoffnungslos dunklen und stillen Zustand.

Der Weg aus diesem Gefängnis durch individuell angepaßte Bildung ist für jeden Menschen eine Befreiung. So ist auch das Anliegen der Unesco zu unterstützen, daß alle Menschen weltweit Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung erhalten sollen: „Jeder muß in die Lage versetzt werden, seine Potentiale entfalten zu können. Dieser Anspruch ist universal und gilt unabhängig von Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen oder den besonderen Lernbedürfnissen eines Menschen.“

UN-Konvention spricht nicht vom gemeinsamen Lernen

Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) ratifiziert. In der „Bonner Erklärung zur inklusiven Bildung in Deutschland“ vom März 2014 forderten 350 Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dazu auf, „sich aktiv für die Umsetzung von qualitativ hochwertiger inklusiver Bildung in Deutschland einzusetzen“. Doch von Inklusion, also dem gemeinsamen Lernen behinderter und nichtbehinderter Schüler, spricht die Konvention nicht. Darauf weist auch der Gymnasiallehrer Michael Felten in seinem Buch „Die Inklusionsfalle“ hin. „Der Geist der BRK“, so Felten, sei ein anderer. „Jedes Kind soll an dem für es sinnvollsten Ort lernen können – und dies kann durchaus, wie weltweit üblich, auch eine Spezialschule oder eine Separatklasse sein.“

Seit Jahrzehnten tobt in Deutschland die Diskussion über das Für und Wider von sogenannten I- (Inklusions)-Klassen. „Eine unglaubliche Gleichmacherei“, titelte die FAZ 2014 über einem Beitrag von Christian Geyer-Hindemith: „Wenn schwer und mehrfach Behinderte als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, dann fallen sie über kurz oder lang auch als Träger eines besonderen Förderbedarfs aus. Dann kann man Sonderschulen schließen, ohne zu wissen, wie diese ihrer speziellen Betreuung beraubten Kinder und Jugendlichen auf inklusiven Schulen zurechtkommen sollen.“

Leidtragende sind jedoch nicht nur lernbehinderte oder kranke Kinder, die in I-Klassen überführt werden. „Radikale und unterfinanzierte Inklusion gefährdet auch die Entfaltung der anderen, der Regelkinder – und sie ruiniert letztlich das gesamte Bildungssystem“, schreibt Michael Felten.

Jenseits dieser Debatte um Inklusion oder Separation ist der Traum einer gerechteren Welt davon abhängig, wieviel er kostet. Schulpolitik ist Ländersache – deren Finanzierung ebenfalls. Inklusion fängt bei den Schulgebäuden an. Und das wird teuer, meint Otto Speck im Beitrag „Inklusive Mißverständnisse“ für die Süddeutsche Zeitung (21. Oktober 2014). Der emeritierte Professor für Sonderpädagogik beruft sich auf eine Studie des Forschungsinstituts für Bildung und Sozialökonomie aus dem Jahr 2009, wonach sich die Gesamtkosten für ein inklusives Schulsystem im Jahr 2020 bundesweit auf etwa 49 Milliarden Euro beliefen. „Zöge man die bisherigen Kosten für das Förderschulsystem in Höhe von 15 Milliarden Euro ab, so verblieben als notwendiger neuer Gesamtaufwand für ein inklusives Schulsystem noch zusätzliche 34 Milliarden“, zitiert Speck aus der im Internet nicht mehr auffindbaren Studie, die die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen in Auftrag gegeben haben soll. Ein „pädagogisch substantiell ausgebautes System schulischer Inklusion“ koste „mehr als doppelt soviel wie das Förderschulsystem“.

Nordrhein-Westfalen etwa „investiert erhebliche Ressourcen in die schulische Inklusion“, so Jörg Harm, Pressesprecher des Schulministeriums auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT. Das Land rechne mit rund 1,2 Milliarden Euro von 2010 bis 2017. Enthalten seien darin „rund 5.000 Lehrerstellen, in Summe bis 2018 insgesamt 100 Millionen Euro für die Aus-, Fort- und Weiterbildung, in Summe bis 2019 insgesamt 190 Millionen Euro zur Unterstützung der Kommunen bei der Umsetzung der Inklusion“.

Ein Inklusionsprojekt in Brandenburg, das im Schuljahr 2012/13 an 84 Grundschulen startete, hatte ein ernüchterndes Ergebnis. „Immer mehr Kritik, immer mehr Rückkehrer an Regelschulen“, titelte die Nachrichtenplattform „news4teachers“ im Februar 2016. „Zusätzliche Lehrkräfte hätten dafür sorgen sollen, daß der Lern­erfolg unter der Umstellung nicht leidet. Eine wissenschaftliche Begleitung von 61 Klassen über zwei Jahre durch die Universität Potsdam habe jedoch ergeben, daß die Schüler ohne Förderbedarf leicht niedrigere Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen aufwiesen als Kinder aus bundesdeutschen Vergleichsklassen.“

Das Stichwort Inklusion suggeriert, behinderte Kinder würden über den Besuch einer Regelschule einen Schritt hin zu sozialer Teilhabe machen. Das Bild des körperlich eingeschränkten, aber normal begabten Schülers ist jedoch ein Trugschluß. Das ergibt sich aus der Statistik der Kultusministerkonferenz: Von den 517.000 sonderpädagogisch geförderten Schülern in Deutschland entfallen 190.000 auf den Förderschwerpunkt „Lernen“. Es folgt mit 85.600 Schülern die Kategorie „Emotionale und Soziale Entwicklung“, dann „Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung (LSE)“ mit 11.900 Schülern. Über die Hälfte der geförderten Schüler sind also nicht behindert, sondern verhaltensauffällig oder nicht lernfähig.

Im Jahr 2005 wurden noch 46.000 Schüler in der Kategorie „Emotionale und Soziale Entwicklung“ geführt, heute hat sich die Zahl fast verdoppelt. Durch Inklusion kann man den verhaltensauffälligen Schüler quasi aus der Statistik verschwinden lassen. Er wird der ganz normale Regelschüler sein. Nicht nur die schwerbehinderte Helen Keller hätte in solch einer Klasse nie eine Harvard-Zukunft gehabt.

Michael Felten: Die Inklusionsfalle. Wie eine gutgemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert. Gütersloher Verlagshaus, 2007, gebunden, 176 Seiten, 17,99 Euro