© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Eine Diskussion ist nicht gewollt
Geistige Hegemonie: Das kulturelle Establishment fürchtet einen politischen Klimawechsel
Thorsten Hinz

Im Vergleich zu Deutschland hat die Schweiz es besser, doch auch dort liegen die Dinge nicht wirklich gut. Für den 17. März war im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich eine Podiumsdiskussion angesetzt, veranstaltet von  der „Operation Libero“, einer liberalen Organisation, die sich erklärtermaßen für „internationale Vernetztheit, für Freiheit, für Fortschritt, für Rechtsstaatlichkeit“ engagiert und zwei Teilnehmer stellen wollte. Die zwei anderen waren der rechtslibertäre Politaktivist Olivier Kessler von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sowie Marc Jongen, der als „Parteiphilosoph“ und Vordenker der Alternative für Deutschland gilt. Das Thema lautete: „Die neue Avantgarde“.

Kurz nach Bekanntgabe erschien in der Zürcher Wochenzeitung (WoZ), die in ihrer Ausrichtung ungefähr der taz entspricht, ein kurzer, aber eindeutiger Artikel, in dem es hieß: „Schaut man sich die Gäste näher an, wachsen die Zweifel, ob hier ein ausgewogenes Gespräch stattfindet, bei dem ausschließlich demokratische Positionen vertreten werden.“ Denn Jongen sei Björn Höcke beigesprungen, „der bei einer Rede in Dresden einen nationalsozialistischen Staat ausgerufen hat“.

Kurz darauf veröffentlichte die Internetplattform nachtkritik.de einen offenen Brief, den über 400 Angehörige des Kulturbetriebs im deutschsprachigen Raum fortlaufend unterzeichneten. Wirkliche Prominenz war nicht darunter, es sei denn, man rechnet den Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen oder den Theaterregisseur Falk Richter dazu, der an der Berliner Schaubühne die pubertäre Haßorgie „Fear“ inszeniert hat, die sich gegen alles richtet, was er außerhalb seines Gesichtskreises, also „rechts“, verortet (die JF berichtete mehrfach). Auch Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) unterschrieb.

Unmißverständlich forderten die Kulturschaffenden, die Diskussion abzusagen. Jongen sei „einer der raffiniertesten Rhetoriker (Demagogen)“ der AfD, und ihm eine Bühne zu bieten“, sei „für politisch Unbedarfte gefährlich anziehend, radical chic“. Zwar ergriffen der Zürcher Tagesanzeiger und die Neue Zürcher Zeitung Partei für die Veranstalter, die NZZ mit dem Argument, der AfD-Mann stünde nur so weit rechts wie Gregor Gysi, der ebenfalls im Theaterhaus aufgetreten sei, links stünde, doch die Argumente der Gegenseite waren, nun ja, schlagkräftiger. Die Veranstalter sagten nach wenigen Tagen die Diskussion ab wegen der erlebten „Diffamierungen, persönlichen Beleidigungen und Erpressung“. Das Podium hätte nur unter dem Schutz einer Sicherheitsfirma und in Absprache mit der Stadtpolizei über die Bühne gehen können. Die WoZ konstatierte befriedigt, die Absage bestätige nur, daß Jongen tatsächlich ein „Sicherheitsrisiko“ darstelle, und genau das hätte den Organisatoren von Anfang an klar sein müssen! So weit, so zynisch, so normal.

Interessant ist der Vorgang vor allem deshalb, weil er in seltener Klarheit die Verunsicherung des kulturellen Establishments enthüllt. Es ist sich voll bewußt, daß seine kulturelle Hegemonie nicht auf überlegenen Ideen, Begriffen und Erklärungsmodellen beruht, sondern nur noch auf den formellen und informellen Machtmitteln, die es ihm erlauben, Andersdenkenden die Möglichkeit öffentlicher Artikulation abzuschneiden, nötigenfalls durch Gewalt. Diese Machtmittel wurden nun eingesetzt, um nicht in einer paritätisch besetzten, gleichberechtigten Diskussion blamiert zu werden.

Die kulturelle Hegemonie hat einen ideellen und einen institutionell-materiellen Aspekt. Das heißt, die unterstellte geistig-begriffliche Überlegenheit rechtfertigt die Verfügung über Medien, Kultureinrichtungen und Gremien. Verbunden damit sind politische Macht, gesellschaftliches Prestige und soziale, das heißt geldwerte Vorteile. Geht das ideelle Kapital verloren oder erweist es sich als Falschgeld, verliert die Verfügungsgewalt ihre Legtimation und alles droht verlorenzugehen. Die Hegemonie wäre futsch.

Barbarisierung der Gesellschaft

Der offene Brief ist also ein Dokument der Panik. Er widerspiegelt die Angst, die längst eingetretene Entwertung könnte öffentlich werden. Vor allem die Verbindung des „Avantgarde“-Themas mit der mutmaßlichen „Neuen Rechten“ wirkte alarmierend auf die Unterzeichner. Der Avantgarde-Begriff stünde für den „radikalen Bruch mit der Tradition und einen Fortschrittsgedanken, der sich vor allem in Versuchen äußerte, eine kommunistische Utopie zu entwerfen“. Mit Jongens Auftritt laufe man Gefahr, der Rechten den Begriff zu „überlassen“.

Die Argumentation ist reichlich wirr, denn die gescheiterte „kommunistische Utopie“ belegt ja gerade, daß der linke Avantgarde-Anspruch sich historisch erledigt hat. Gemeint ist natürlich das Gegenteil. Es geht um den Monopol-anspruch an einem für die Kunstszene zentralen Begriff, mit dem sich Eigenschaften wie: fortschrittlich, innovativ, schöpferisch verbinden. Er faßt gewissermaßen das Selbstverständnis des modernen Künstlers zusammen. An ihm hängen sein öffentliches Prestige und seine soziale Existenz.

Auch der Utopie-Anspruch ist keineswegs aufgegeben. Die 1989 gescheiterte sozialistische wurde durch die Multikulti-Utopie ersetzt. An die Stelle des zu befreienden Proletariers als ideologischer Bezugspunkt traten die Armen der Dritten Welt. Mit Merkels Entschluß zur Grenzöffnung wurde die Utopie konkret. Den unter Spardruck und dem Verschwinden des Bildungsbürgertums gleichermaßen leidenden Theaterhäusern bot sich die einmalige Chance, durch die konsequente Politisierung in der Migrationsfrage ihre gesellschaftliche Relevanz zu erneuern. Der Musikproduzent, SPD-Bundestagskandidat und frühere Kulturstaatssekretär von Berlin, Tim Renner, postulierte kürzlich: „Über Kultur schaffen (die Flüchtlinge) den Zugang zu unserer freiheitlichen Gesellschaft. (...) In der Arbeit mit den Geflüchteten entsteht im Idealfall eine neue Kultur.“ 

In Wirklichkeit findet eine Tribalisierung und schleichende Barbarisierung der Gesellschaft statt. Diesen Konflikten mag der Kulturbetrieb sich aus ideologischen und politischen Gründen jedoch nicht stellen. Also blendet er aus, was gegen seinen Utopie-Entwurf spricht und stigmatisiert diejenigen, die es artikulieren, als „undemokratisch“. Die Ablehnung von Jongens Auftritt wurde auch mit der angeblichen Gewalt begründet, die seitens der AfD gegen die Kulturszene ausgeübt wird. Als Beispiel wurde der Protest gegen das Stück „Peak White – Wirr sinkt das Volk“ von Kevin Rittberger im Oktober 2016 vor dem Theater Heidelberg angeführt.

Interessanterweise ist Rittberger auch der Verfasser und Erstunterzeichner des Briefes. Sein Stück handelt von „weißen Rassisten, ehemaligen Burschenschaftlern und Pegida-Anhängern“. Der Rezensent der Rhein-Neckar-Zeitung lobte zwar die politische Stoßrichtung, bemängelte aber die künstlerische Qualität: „Ein fast verbloses Schlagwort-Stakkato“ wechsele sich mit „Monolog-Girlanden“ ab, „die klingen, als stammten sie aus einem Proseminar der Soziologen“. In Göttingen, wo das Stück ebenfalls aufgeführt wurde, beschränkte die Lokalzeitung sich auf eine kurze Inhaltsangabe. Die korrekte politische Haltung ersetzt hier, was an künstlerischem Format fehlt. Es ist ganz klar, daß solche konjunkturabhängigen Kulturvertreter einen politischen Klimawechsel fürchten.

Eine Verständigung scheint nicht möglich

In der FAZ mahnte Simon Strauß ein „diskursives Gleichgewicht“ an. Man könne nicht „einerseits nach Politisierung rufen und andererseits aufgeregt nach Ruhe verlangen, wenn ein Theater mit der Forderung, sich die Tagespolitik ins Haus zu holen, wirklich Ernst macht“. Oh doch, man kann! Schillers Ideal vom Theater als moralischer Anstalt oder die Begrifflichkeit des milden Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert taugt nicht dazu, um den aktuellen Kultur- und politischen Betrieb zu erklären. Längst haben wir es mit einem Kulturkampf, mit einem nicht mehr nur geistigen Bürgerkrieg zu tun. 

Wer das für übertrieben hält, lese im Tagesanzeiger nach, was der Schriftsteller Raphael Urweider zur abgesagten Diskussion in Zürich meint: „Daß man hier Angst vor zornigen Linken hatte: Tja. Die Angst ist sonst das politische Mittel der Rechten. (...) Also, auch die Gewaltdrohung ist gut.“ Der zarte Poet des Expressionismus, der einst vom reinigenden Weltgewitter schwärmte, ist hier zum tückischen Pitbull-Flüsterer geschrumpft, der von der Meute sein Revier und den Subventionskuchen verteidigen läßt. Das ist nicht avantgardistisch, nicht mal epigonal, das ist reaktionärer Müll, der statt einer Entgegnung die Abfuhr braucht.

Eine Verständigung erscheint hier nicht mehr möglich und ist auch gar nicht gewollt. In der Situation wirkt eine geplatzte Veranstaltung ehrlicher als eine simulierte.